Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage an das BVerfG. Asylbewerberleistungen. Grundleistungen. Verfassungsmäßigkeit der für das Jahr 2018 für die Bedarfsstufen 1 und 5 festgesetzten Geldbeträge zur Deckung des notwendigen Bedarfs und des notwendigen persönlichen Bedarfs nach § 3 AsylbLG. Kürzung der Geldleistungen wegen anderweitiger Bedarfsdeckung durch Sachleistungen
Leitsatz (amtlich)
1. Eine Fortschreibung der Bedarfssätze nach § 3 AsylbLG aF für die Zeit ab 2017 gemäß § 3 Abs 4 S 1 und 2 AsylbLG aF kommt im Wege der Gesetzesauslegung nicht in Betracht.
2. Die für das Jahr 2018 festgesetzten Geldleistungen nach § 3 AsylbLG aF (Bedarfsstufen 1 und 5) sind trotz beachtlicher Unterschiede zu den Regelbedarfsstufen nach § 28 SGB XII nicht evident unzureichend (gewesen), ein menschenwürdiges Existenzminimum zu gewährleisten.
3. Die für das Jahr 2018 festgesetzten Geldleistungen nach § 3 AsylbLG aF (Bedarfsstufen 1 und 5) sind mit Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG nicht vereinbar, weil sie nicht nachvollziehbar und sachlich differenziert, also nicht bedarfsgerecht berechnet worden sind.
a) Bei der Bestimmung der Leistungen zur Gewährleistung des soziokulturellen Existenzminimums (sog notwendiger persönlicher Bedarf) nach § 3 Abs 2 S 5 iVm § 3 Abs 1 S 8 Nr 1 und 5 AsylbLG aF ist nicht hinreichend belegt, dass sich die Aufenthaltsdauer konkret auf existenzsichernde Bedarfe auswirkt und inwiefern dies die gesetzlich festgestellte Höhe der Geldleistungen tragen könnte. Die vom allgemeinen Grundsicherungsrecht (SGB II/SGB XII) abweichende Leistungsbemessung ist intransparent und berücksichtigt nur einseitig Minder- und nicht Mehrbedarfe, die typischerweise gerade unter den Bedingungen eines nur vorübergehenden Aufenthalts anfallen können. Es ist nicht gewährleistet, dass durch die pauschalen Bedarfssätze existenzsichernde Bedarfe insgesamt tatsächlich gedeckt werden.
b) Es ist nicht sichergestellt, dass die gesetzliche Umschreibung der Personengruppe der Leistungsberechtigten nach §§ 1, 3 AsylbLG, bei der aufgrund einer "Kurzfristigkeit des Aufenthalts" in Deutschland spezifische Minderbedarfe bestehen sollen, hinreichend zuverlässig tatsächlich nur diejenigen erfasst, die sich regelmäßig nur kurzfristig in Deutschland aufhalten. Dies betrifft insbesondere die Gruppe von Leistungsberechtigten, die wegen einer rechtsmissbräuchlichen Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer in Deutschland gemäß § 2 Abs 1 AsylbLG aF über einen Zeitraum von 15 Monaten hinaus Grundleistungen nach § 3 AsylbLG aF beziehen.
c) Die Bedarfssätze nach § 3 AsylbLG aF sind für die Zeit vom 1.1.2017 bis 31.8.2019 ohne sachlichen Grund nicht fortwährend überprüft und weiterentwickelt worden.
4. Die Ermessensvorschrift des § 6 AsylbLG ist als Ausnahmebestimmung für den atypischen Bedarfsfall konzipiert und daher von vornherein nicht geeignet, strukturelle Leistungsdefizite im Regelbereich des § 3 AsylbLG zu kompensieren (Anschluss an BVerfG vom 18.7.2012 - 1 BvL 10/10 ua = BVerfGE 132, 134 = SozR 4-3520 § 3 Nr 2, RdNr 89).
5. Bei der Gewährung von sowohl Sach- als auch Geldleistungen zur Deckung des notwendigen Bedarfs iS des § 3 AsylbLG aF (sog Mischform der Leistungsgewährung) ist eine wertmäßige Kürzung der Bedarfssätze durch eine analoge Anwendung des § 27a Abs 4 S 1 Nr 1 SGB XII möglich. Zur Bestimmung der Kürzungsbeträge kann orientierend auf die Einzelbeträge der Abteilungen der EVS für die jeweilige Regelbedarfsstufe nach dem SGB XII zurückgegriffen werden (vgl LSG München vom 15.11.2019 - L 8 AY 43/19 B ER = juris RdNr 39). Auf der Grundlage dieser Beträge sind die Abzüge realistisch zu schätzen (§ 287 ZPO in entsprechender Anwendung). Eine Kürzung der Geldleistungen ist der Höhe nach auf denjenigen Anteil des Bedarfes begrenzt, der auf die konkrete Sachleistung entfällt.
Orientierungssatz
Dem Bundesverfassungsgericht wird folgende Frage zur Entscheidung vorgelegt:
Sind § 3 Abs 2 S 1 und 2 AsylbLG und § 3 Abs 2 S 5 iVm Abs 1 S 5 und 8 AsylbLG in der 2018 geltenden Fassung der Bekanntmachungen vom 20.10.2015 (BGBl I 1722) und 11.3.2016 (BGBl I 390) sowie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 26.10.2015 (BGBl I 1793; juris: AsylbLG§3Abs4Bek) mit dem Grundgesetz vereinbar?
Tenor
Das Verfahren wird nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz ausgesetzt.
Dem Bundesverfassungsgericht wird die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylbLG und § 3 Abs. 2 Satz 5 i.V.m. Abs. 1 Satz 5 und 8 AsylbLG in der 2018 geltenden Fassung der Bekanntmachungen vom 20. Oktober 2015 (BGBl. I 1722) und 11. März 2016 (BGBl. I 390) sowie des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 26. Oktober 2015 (BGBl. I 1793) mit dem Grundgesetz vereinbar sind.
Gründe
A.
Im Streit sind höhere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) für den Monat September 2018.
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