Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Streitgegenstand. Meistbegünstigungsgrundsatz. Sozialhilfe. Beschränkung des Streitgegenstands auf den Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung. gesetzliche Änderung der sachlichen Zuständigkeit. Beteiligtenwechsel. Nicht-Zöliakie-Gluten-/Weizensensitivität

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zur Berücksichtigung des Meistbegünstigungsgrundsatzes bei der Auslegung von Rechtsbehelfen.

2. Der Anspruch auf Anerkennung eines (höheren) Mehrbedarfs nach § 30 Abs 5 SGB XII kann einen abtrennbaren Streitgegenstand darstellen.

3. Ein Beteiligtenwechsel wegen der gesetzlichen Änderung der sachlichen Zuständigkeit kommt für in der Vergangenheit geltend gemachte Ansprüche nicht in Betracht, wenn durch die Gesetzesänderung keine umfassende Funktionsnachfolge erfolgt ist (vgl BSG vom 18.11.2015 - B 9 V 1/15 R = SozR 4-3100 § 62 Nr 3 RdNr 14).

4. Zur Anerkennung eines Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung nach § 30 Abs 5 SGB XII; hier verneint für die sog Nicht-Zöliakie-Glutensensitivität bzw Nicht-Zöliakie-Weizensensitivität (NCGS).

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Aurich vom 1. November 2018 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Im Streit ist die Anerkennung eines höheren Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung aufgrund einer Glutenunverträglichkeit für die Zeit von August 2015 bis Januar 2017.

Die 1979 geborene, alleinstehende Klägerin lebte seit Anfang 2013 in der im Kreisgebiet des Beklagten liegenden Gemeinde H. (im Folgenden Gemeinde) in einer etwa 50 qm großen Mietwohnung, für die sie im streitgegenständlichen Zeitraum monatlich eine Kaltmiete von 272,00 € sowie Nebenkosten von 75,16 € zu entrichten hatte. Seit ihrem Umzug dorthin bezog sie vom Beklagten bzw. von der von ihm für diese Aufgaben herangezogenen Gemeinde Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem Vierten Kapitel des SGB XII (Grundsicherungsleistungen) unter Berücksichtigung ihrer Rente wegen voller Erwerbsminderung, deren monatlicher Auszahlungsbetrag sich von August 2015 bis Februar 2016 auf 498,79 € (zuvor 490,18 €), von März bis Juni 2016 auf 495,43 € und von Juli 2016 bis Januar 2017 auf 516,46 € belief. Hintergrund der vollen Erwerbsminderung der Klägerin sind ihre gesundheitlichen Beeinträchtigungen, die auf operative Korrekturen bei Blasenfehlbildung (Blasenextrophobie) im Säuglingsalter und einem Harnblasenersatz mit Bauchdeckenkatheterisierung (im Alter von zwölf Jahren) zurückzuführen sind und sich u.a. durch chronische Harnwegsinfekte bzw. Nierenbeckenentzündungen auszeichnen. Wegen der zusätzlichen Erkrankung an Multiple Sklerose und ihres stark eingeschränkten Allgemeinzustandes wurde beim Bezug der Grundsicherungsleistungen ab Februar 2014 ein Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung (Aufbaukost, eiweißdefinierte Kost) zunächst in Höhe von 10 % des Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 1 berücksichtigt, so auch für die Zeit von Februar 2015 bis Januar 2016 durch (bestandskräftige) Bescheide der Gemeinde vom 19.1.2015 und 25.1.2016 (bewilligte Grundsicherungsleistungen u.a. für die Zeit von August bis Dezember 2015 i.H.v. 327,17 € und für Januar 2016 i.H.v. 333,28 €). Nach Vorlage einer Bescheinigung ihres Hausarztes, Dr. I., Facharzt für Allgemeinmedizin, H., aus August 2015 über eine deutlich eingeschränkte Nierenfunktion (Niereninsuffizienz) und das Beschwerdebild „Zöliakie/Sprue (Unverträglichkeit von Gluten und Glutensensivität)“ berücksichtigte die Gemeinde auf die Stellungnahme des Gesundheitsamtes des Beklagten (Amtsärztin Dr. J.) vom 15.10.2015 wegen der Niereninsuffizienz einen um weitere 10 % des Regelsatzes nach der Regelbedarfsstufe 1 erhöhten Mehrbedarf wegen kostenaufwändiger Ernährung und bewilligte der Klägerin Grundsicherungsleistungen durch (zwei) Bescheide vom 28.1.2016, zum einen für die Zeit von August bis Dezember 2015 (327,17 € je Monat) sowie Januar 2016 (333,28 €) und zum anderen für Februar 2016 (343,27 €), März bis Juli 2016 (333,17 € je Monat), August 2016 (343,27 €) sowie September 2016 bis Januar 2017 (333,17 € je Monat). Dem gegen „ihren“ Bescheid vom 28.1.2016 wegen des nicht berücksichtigten Mehrbedarfs aufgrund Glutensensivität eingelegten Widerspruch half die Gemeinde nicht ab; dieser hatte nach einer weiteren Stellungnahme des Gesundheitsamtes (Amtsärztin Dr. J. vom 7.4.2016) wegen des fehlenden Nachweises einer Glutenunverträglichkeit in der Sache keinen Erfolg (Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 3.5.2016).

Nach Erhebung der auf die Anerkennung eines höheren Mehrbedarfs wegen kostenaufwändiger Ernährung gerichteten Klage beim Sozialgericht (SG) Aurich (am 25.5.2016) hat die Gemeinde der Klägerin aufgrund von Rentenanpassungen (ab März 2016) durch Änderungsbescheid vom 21.6.2016 Grundsicherungsleistungen für die Zeit von März bis Juni (336,53 € je Monat), Juli (315...

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