Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. lautstarkes Klingeln und Klopfen an die Wohnungstür. Schlagen mit einem Revolver. kein tätlicher Angriff

 

Orientierungssatz

Ein lautstarkes Klingeln und Klopfen an die Wohnungstür (hier auch unter Verwendung eines Revolvers) genügt nicht für die Bejahung eines tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG, wenn der Täter nicht versucht hat, die Tür einzutreten, einzurammen oder sonst gewaltsam zu öffnen.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 04.02.2021; Aktenzeichen B 9 V 42/20 B)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 14. Juni 2017 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob das beklagte Land verpflichtet ist, der Klägerin wegen eines am 16. September 2014 erlittenen Ereignisses Beschädigtenrente zu gewähren.

Die 1982 geborene Klägerin ist polnische Staatsangehörige. Sie hatte gemeinsam mit ihrer Freundin Sylwia H. in I. in der J. Straße 74 eine in der ersten Etage gelegene Wohnung angemietet, in der sie als Prostituierte arbeiteten und Männer empfingen. Am 16. September 2014 waren beide Frauen in der Wohnung, als gegen 18.00 Uhr Uwe K. erschien. Dieser verbrachte ca. eine Stunde mit den Frauen, trank mit ihnen Wein und Champagner und bezahlte ihnen 200 €. Während dieser Zeit zeigte er Frau H. auch „nur so“ eine Pistole, die er an seinem Hosengürtel in einem Holster trug, wobei diese zu Anfang dachte, es handele sich um eine Spielzeugpistole (vgl. Bl. 10 VA). Tatsächlich handelte es sich um einen geladenen und schussbereiten Selbstladerevolver, den K. als Inhaber eines gültigen Jagdscheins grundsätzlich auch besitzen durfte. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Stimmung gut, K. war friedlich und gut gelaunt; nachdem die Zeit abgelaufen war, zog sich dieser an und verließ die Wohnung. Außerhalb der Wohnung suchte er vergeblich sein Portemonnaie und wurde, weil er es nicht finden konnte, sehr wütend. Er ging irrig davon aus, die Klägerin und Frau H. hätten ihm seine Geldbörse in der Wohnung entwendet. Erregt begab er sich zurück zur Wohnungstür, klingelte, nahm den Revolver aus dem Holster, klopfte damit heftig gegen die Wohnungstür und verlangte von den Frauen immer wieder lautstark Einlass mit den Worten „Mach‚die Tür auf!“. Frau H. ging zur Wohnungstür, sah durch den Türspion und verfiel, als sie K. mit dem gezogenen Revolver in der Hand vor der Tür stehend erkannte, in heftige Angst und Panik. Sie teilte der Klägerin, die das Geschrei des K. und sein Schlagen gegen die Wohnungstür ebenfalls gehört hatte und auch davon ausging, dass dieser wieder zurück in die Wohnung wollte, mit, dass er mit der gezogenen Waffe vor der Tür stehe. Die Frauen flüchteten, weil sie sich nicht anders zu helfen wussten, auf den Balkon der Wohnung. Auf dem Balkon angekommen, rief die Klägerin mit ihrem Handy die Polizei an. Außerdem bat sie einen vorbeikommenden Passanten, er möge ihnen helfen. Frau H. stieg in Panik sogleich über die Brüstung, um sich vor dem Täter in Sicherheit zu bringen, stürzte ab und fiel auf den Boden. Dabei zog sie sich eine distale dislozierte Radiusfraktur links, eine Kahnbeinfraktur links sowie eine Fraktur des Lendenwirbels K1 zu. Die Klägerin konnte sich über den Balkon durch eine Zwischentür auf den Balkon der Nachbarwohnung retten. Als wenig später die Polizeibeamten vor der Wohnungstür erschienen, hatte sich K. immer noch nicht beruhigt. Da er der Aufforderung der Polizeibeamten, die Waffe wegzulegen und sich durchsuchen zu lassen, nicht sogleich nachkam, mussten ihm Handfesseln angelegt werden. Erst später auf dem Polizeirevier beruhigte sich der Täter. Eine entnommene Blutprobe ergab einen Blutalkoholwert von 2,43 Promille zum Zeitpunkt der Blutentnahme. Wegen dieses Ereignisses wurde K. vom Amtsgericht Stendal wegen fahrlässiger Körperverletzung in Tateinheit mit versuchter Nötigung in Tateinheit mit unerlaubtem Führen einer Schusswaffe zu einer Geldstrafe verurteilt. Außerdem wurde festgestellt, dass er dem Grunde nach verpflichtet ist, Frau H. wegen der Körperverletzung Schadensersatz und Schmerzensgeld zu zahlen (vgl. Urteil des Amtsgerichts Stendal vom 4. Januar 2016, Az.: 21 DS 186 Js 12780/14).

Im September 2015 beantragte die Klägerin beim Landesverwaltungsamt Sachsen- Anhalt unter Hinweis auf diese Tat Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG). Infolge des Vorfalls habe sie schwere psychische Schäden erlitten. Das Landesverwaltungsamt zog die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Stendal (Az.: 186 Js 12780/14) bei. Mit Bescheid vom 15. März 2016 lehnte das Land Sachsen- Anhalt den Antrag auf Beschädigtenversorgung im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass es zu einer direkten Kraftentfaltung gegenüber der Klägerin nicht gekommen sei, da die Wohnungstür verschlossen geblieben sei und der Schädiger die Schusswaffe nicht abgefeuert habe. Damit liege weder ...

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