Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. tätlicher Angriff. Wutausbruch im Arbeitsamt. Drohgebärden gegen Behördenmitarbeiterin. gewaltsamer Versuch der Öffnung einer verschlossenen Bürotür. körperliche Gewalt gegen die Tür als letztes Hindernis. Abgrenzung zur psychischen Gewalt
Orientierungssatz
1. Springt ein Kunde der Agentur für Arbeit einer Behördenmitarbeiterin entgegen, bäumt sich Kopf an Kopf vor ihr auf und schreit sie an, liegt hierin noch kein tätlicher Angriff im Sinne des § 1 Abs 1 S 1 OEG.
2. Ein solcher tätlicher Angriff liegt auch nicht vor, wenn der Kunde (hier nach Erhalt eines Hausverbots) in aggressiver Grundhaltung versucht, eine verschlossene Bürotür gewaltsam zu öffnen, sofern es keinen Anhaltspunkt dafür gibt, dass Kunde mit solcher Kraft und Gewalt auf die Bürotür einwirkt, dass die tatsächliche Gefahr des Zerberstens der Tür besteht (Abgrenzung zu BSG vom 10.9.1997 - 9 RVg 1/96 = BSGE 81, 42 = SozR 3-3800 § 1 Nr 11).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Braunschweig vom 5. September 2019 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob das beklagte Land verpflichtet ist, der Klägerin wegen der am 7. und 8. November 2016 erlittenen Ereignisse Beschädigtenrente zu gewähren.
Die 1981 geborene Klägerin war als Fachassistentin in der Eingangszone bei der Agentur für Arbeit F. in der Geschäftsstelle G. beschäftigt. Am 8. November 2017 wandte sie sich an den Beklagten und beantragte Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung von Gewaltopfern (OEG). Zur Begründung bezog sie sich auf einen Vorfall, der sich am 7. November 2016 während ihrer Dienstzeit ereignete. Laut Unfallanzeige vom 13. Dezember 2016 wurde die Klägerin an diesem Tag von einem Kunden beschimpft und bedroht. Aufgrund seines Verhaltens wurde der Kunde der Agentur für Arbeit verwiesen, drohte jedoch, am nächsten Tag wiederzukommen. Der Kunde erschien am nächsten Tag erneut und versuchte vergeblich, gewaltsam in das abgeschlossene Büro der Klägerin zu gelangen. Diese Angaben präzisierte die Klägerin später dahingehend, dass sie am 7. November 2016 gerade mit einem Kunden beschäftigt gewesen sei als sie bemerkt habe, dass sich ihre Kollegin, deren Arbeitsplatz im selben Büro durch eine spanische Wand abgetrennt gewesen sei, mit einem ca. 20-jährigen männlichen Kunden unterhalten habe, der in Begleitung eines jungen Mannes erschienen sei. Dieser Kunde sei im Verlauf des Gesprächs immer lauter und erregter geworden und habe sich beleidigend geäußert. Aufgrund der Lautstärke und der aggressiven Haltung sei sie aufgestanden und habe den Kunden um Ruhe gebeten. Dieser sei daraufhin aufgesprungen, habe die Stühle „weggefegt“, auch seinen Begleiter heftig zur Seite gestoßen und sei auf sie zugekommen. Kopf an Kopf genau vor ihr habe er sich aufgebäumt und sie angeschrien. Ihr eigener Kunde sei daraufhin hervorgetreten und habe dem Angreifer gesagt, er solle aufhören. Dessen Begleiter habe ihn dann am Arm gegriffen und aus dem Büro gedrängt. Den Versuch des aggressiven Kunden, nochmals in das Büro zurückzukommen, habe der Begleiter unterbunden. Der Kunde habe dann noch geschrien, dass er wiederkomme und „richtig aufräume“ und sie dann „ihr blaues Wunder“ erlebe. Am nächsten Tag habe sie mit verschlossener Tür wieder mit ihrer Kollegin im Büro gearbeitet. Sie habe gesehen, dass derselbe Kunde die Dienststelle betreten und sich in die Warteschlange eingereiht habe. Dies habe sie der Dame vom Sicherheitsdienst mitgeteilt, die dem Kunden sodann ein schriftliches Hausverbot ausgehändigt habe. Der Kunde sei daraufhin gewaltsam auf die verschlossene Bürotür losgegangen und habe gewaltsam versucht, sich Zutritt zu verschaffen. Die Dame vom Sicherheitsdienst habe den Kunden dann der Dienststelle verwiesen. Sie, die Klägerin, habe anschließend die Polizei gerufen, weil der Kunde noch auf dem Fußweg vor dem Bürofenster auf- und abgelaufen sei und zu ihrem Fenster hochgeschaut habe. Beim Eintreffen der Polizei sei er allerdings nicht mehr vor Ort gewesen.
Der Beklagte zog die medizinischen Unterlagen der Unfallkasse des Bundes bei, der die Vorfälle vom 7. und 8. November 2016 als Arbeitsunfall gemeldet worden waren. Im dortigen psychiatrischen Fachgutachten vom 11. Juni 2018 diagnostizierte der Gutachter Dr. H. bei der Klägerin eine posttraumatische Belastungsstörung, anamnestisch eine Multiple Sklerose mit schubförmig-remittierendem Verlauf, einen chronischen Spannungskopfschmerz sowie Adipositas. Die unfallbedingte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) bezifferte der Gutachter auf 30 vom Hundert (vH). Außerdem zog der Beklagte die Arztberichte und sonstigen medizinischen Unterlagen aus dem Schwerbehindertenverfahren der Klägerin bei. Insofern wurde ab dem 14. März 2017 ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 aufgrund ei...