Entscheidungsstichwort (Thema)
Leistung zur Teilhabe am Arbeitsleben. Gründungszuschuss. Nachweis der Tragfähigkeit der Existenzgründung. Businessplan. Prognose. wirtschaftliche Einschätzung. reales Marktgeschehen
Leitsatz (amtlich)
Der in § 93 Abs 2 S 1 Nr 2 SGB III verlangte "Nachweis" der Tragfähigkeit des Existenzgründungsvorhabens erfordert eine inhaltlich nachvollziehbare Anknüpfung der prognostischen wirtschaftlichen Einschätzungen an Beobachtungen des realen Marktgeschehens.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 24. November 2021 aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens der Anspruch auf Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (LTA) in Form eines Gründungszuschusses zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit als Hausmeister (Allrounder) streitig.
Der am 22. Juni 1987 geborene Kläger hat eine im Jahr 2004 begonnene Bäckerlehre 2005 wieder abgebrochen und von August 2005 bis Juli 2007 erfolgreich eine Ausbildung zum Maurer abgeschlossen (Prüfungszeugnis der Gesellenprüfung vom 27. Juli 2007, Bl. 20 VV). Anschließend war der Kläger im erlernten Beruf als Maurer versicherungspflichtig tätig, zuletzt beim Baugeschäft K. in L. bis April 2014 (Bl. 7 VV).
Im September 2013 zog sich der Kläger eine rechtsseitige Klavikularfraktur (Schlüsselbeinbruch) zu und war seither arbeitsunfähig. Vom 19. Juni bis zum 16. Juli 2014 absolvierte der Kläger zu Lasten der Beklagten eine ganztägig ambulante Rehabilitationsmaßnahme im M. Rehazentrum, Abteilung Orthopädie/Traumatologie. Die dortigen Klinikärzte gelangten im Rehabilitationsentlassungsbericht vom 6. August 2014 (Gutachtenheft der Beklagten) ausgehend von den Diagnosen: Klavikularfraktur rechts 09/13 mit Schmerzchronifizierung bei Fehlstellung zu der Einschätzung, dass der Kläger seine letzte berufliche Tätigkeit als Maurer nur noch drei bis sechs Stunden ausüben könne. Für leichte bis mittelschwere Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Vermeidung von Zwangshaltungen, wie Arbeiten mit Armhalte oberhalb der Horizontale, Arbeiten mit häufigem und längerfristigem Kraftfluss über die Arme (Haltearbeiten), überdurchschnittlich häufiges Bewegen von mittelschweren Lasten ohne geeignete technische Hilfsmittel oder Hilfspersonen und regelmäßige Erschütterungs- und Vibrationsbelastungen der oberen Extremitäten bestehe noch ein sechs Stunden und mehr umfassendes Leistungsvermögen. Vom 29. Oktober 2014 bis zum 27. Oktober 2015 bezog der Kläger Arbeitslosengeld I von der Agentur für Arbeit Braunschweig N. (vgl. Änderungsbescheid vom 12. Januar 2015, Blatt 21 Bl. 7, 21 VV, Entgeltbescheinigung vom 26. Oktober 2015, Bl. 197 GA II).
Am 9. Januar 2015 beantragte der Kläger bei der Bundesagentur für Arbeit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben. Diesen Antrag leitete die Agentur für Arbeit E. mit Schreiben vom 13. Januar 2015 an die Beklagte weiter (Eingang 19. Januar 2015). Daraufhin bewilligte die Beklagte dem Kläger mit Bescheid vom 22. Januar 2015 (nach Bl. 72 VV = Bl. 168 GA I) Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben dem Grunde nach. Zum Gespräch über die Erstberatung mit der Beklagten am 11. Februar 2015 hielt die Beklagte in einem Vermerk (Bl. 13 VV) fest: „Versicherter erscheint mit Lebensgefährtin zur Beratung. Er kommt mit der klaren Vorstellung zur Beratung, sich mit einem Hausmeisterservice selbstständig zu machen. […] Alternativen stand der Versicherte derzeit nicht offen gegenüber. Dementsprechend bleiben die weiteren Entwicklungen abzuwarten.“ Am 12. März 2015 beantragte der Kläger die Gewährung eines Gründungszuschusses für eine selbständige Tätigkeit mit einem erweiterten Hausmeisterservice bei der Beklagten und reichte u.a. eine Gewerbeanmeldung vom 9. März 2015 ein mit den angemeldeten Tätigkeiten: Hausmeisterservice, Garten- und Landschaftsbau, Tiefbauarbeiten, Fliesen-, Platten- und Mosaikleger, Estrichleger, Parkett- und Laminatleger, Fuger (Hochbau), Betonbohrer/Schneider, Einbau von genormten Baufertigkeiten, Kurierfahrten, Lieferservice (Bl. 19 VV). Am 29. Juni 2015 erfolgte eine Gewerbeummeldung und zusätzlich neu ausgeübt wurde der Direktvertrieb von Kerzen (Bl. 33 VA, Gewerbeummeldung vom 29. Juni 2015). Am 8. September 2015 erfolgte eine Folgeberatung bei der Beklagten, in der der Kläger u.a. mitteilte, dass er zwischenzeitlich Zweifel an seiner Selbständigkeit habe, da er nicht so viele Arbeitsaufträge habe akquirieren können, wie zunächst gedacht (vgl. Bl. 26 VV).
Die von der Beklagten mit Schreiben vom 4. Mai 2015 angeforderte Stellungnahme einer fachkundigen Stelle über die Tragfähigkeit der Existenzgründung reichte der Kläger im Januar 2016 bei der Beklagten ein (vgl. Bl. 27/31 VV). Ausweislich der vom Kläger mit Schriftsatz vom 30. Januar 2023 vorgelegten Rechnung...