Entscheidungsstichwort (Thema)
Arbeitslosengeld II. Mehrbedarf wegen Behinderung. fehlende Erwerbsfähigkeit. Sozialgeld. Leistungsausschluss bei Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung. Mehrbedarf bei Nachweis der Feststellung des Merkzeichens G. Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers. auch bei zunächst erfolgter Leistungserbringung durch den Grundsicherungsträger und nachfolgender rückwirkender Feststellung der Erwerbsunfähigkeit. Anwendbarkeit des § 16 Abs 2 S 2 SGB 1
Leitsatz (amtlich)
1. Ein "gespaltener" Leistungsanspruch, der für verschiedene Aspekte der Hilfebedürftigkeit für den gleichen Zeitraum einerseits gegen den Leistungsträger nach dem SGB 2 und andererseits gegen den Leistungsträger nach dem SGB 12 besteht, wäre systemwidrig. Dies gilt jedoch nicht in gleicher Weise für Leistungszeiträume, über die noch nicht bestandskräftig seitens der Verwaltung entschieden worden ist. Steht erst aufgrund späterer Neueinschätzung fest, dass der Sozialhilfeträger statt des SGB 2 Grundsicherungsträgers für die Leistungen vollumfänglich zuständig gewesen wäre, so ist dieser der eigentlich Leistungsverpflichtete und damit auch zuständiger Verpflichteter eines etwaigen höheren als des bereits gewährten Anspruchs. Eine Aufspaltung eines einheitlichen Sozialleistungsanspruchs findet in diesen Fällen nicht statt.
2. Die Vorschrift des § 16 Abs 2 S 2 SGB 1 greift auch dann ein, wenn ein Antrag eines hilfebedürftigen Antragstellers nicht bei einer unzuständigen Stelle, sondern bei einem Träger der Grundsicherung nach dem SGB 2 eingegangen ist, der entweder für die Bewilligung der Leistung auf der Grundlage des § 44a Abs 1 S 7 SGB 2 - bzw § 44a Abs 1 S 3 in der bis zum 31.12.2010 geltenden Fassung - zuständig ist oder der sich jedenfalls nach dem zum Antrags- und Entscheidungszeitpunkt bestehenden Erkenntnisstand ohne Vorliegen eines Sorgfaltspflichtverstoßes für leistungszuständig gehalten hat, der aber aufgrund des Umstandes, dass sich später die Erwerbsunfähigkeit des Antragstellers herausstellt, materiell für den Antragsteller tatsächlich nicht leistungszuständig war.
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 27. Juli 2011 wird aufgehoben.
Die Beigeladene wird verpflichtet, dem Kläger für die Zeit vom 1. November 2008 bis zum 30. April 2009 laufende Leistungen nach dem SGB XII unter Berücksichtigung der für diesen Zeitraum bereits vom Beklagten gewährten Leistungen nach dem SGB II zu gewähren, insbesondere unter Berücksichtigung eines Mehrbedarfs nach dem SGB XII.
Die außergerichtlichen Kosten des Klägers trägt die Beigeladene.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger begehrt die Gewährung von Leistungen wegen Mehrbedarfs aufgrund der Zuerkennung eines Grades der Behinderung (GdB) von 70 und des Merkzeichens “G„ für den Zeitraum vom 1. November 2008 bis zum 30. April 2009. Besonderheit des Falles ist, dass seine Erwerbsunfähigkeit für diesen Zeitraum erst nachträglich festgestellt worden ist.
Der aus Kasachstan stammende, 1969 geborene Kläger, der bereits seit Januar 2005 in Bedarfsgemeinschaft mit seiner Ehefrau und seinen 1997 und 2003 geborenen Töchtern im Leistungsbezug nach dem Sozialgesetzbuch (SGB), Zweites Buch (II) - Grundsicherung für Arbeitssuchende - gestanden hatte, stellte am 10. September 2008 einen Folgeantrag auf Weiterbewilligung von Leistungen ab dem 1. November 2008. Bereits zuvor, nämlich mit Bescheid vom 23. Juli 2007, hatte das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie - Außenstelle L. - den GdB des Klägers mit 70 sowie das Merkzeichen “G„ festgestellt, beides mit Wirkung ab dem 28. Februar 2007. Am 24. Oktober 2007 hatte der Kläger einen Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bei der Deutschen Rentenversicherung M. gestellt, der durch Bescheid vom 21. Januar 2008 abgelehnt worden war, weil die Wartezeit nicht erfüllt sei; am 11. August 2008 stellte er erneut einen Antrag auf Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Rentenansprüche des Klägers wurden anschließend Gegenstand eines vor dem Sozialgericht (SG) Oldenburg - S 8 R 298/09 - geführten Rechtsstreits.
Mit Bescheid vom 18. September 2008 - und alsdann nochmals mit inhaltsgleichem Bescheid vom 9. Oktober 2008 - bewilligte die Rechtsvorgängerin des Beklagten dem Kläger und seiner Bedarfsgemeinschaft Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. November 2008 bis zum 30. April 2009 in Höhe von insgesamt monatlich 1.326,10 € nach näherer Maßgabe der genannten Bescheide nebst den diesen beigefügten Berechnungsbögen. Auf der Bedarfsseite wurden hierbei für den Kläger der Regelbedarf sowie die Kosten für Unterkunft und Heizung berücksichtigt, ein Mehrbedarf wurde nicht in Ansatz gebracht. Der Kläger und die weiteren Mitglieder seiner Bedarfsgemeinschaft legten am 28. Oktober 2008 Widerspruch ein, den sie einerseits mit der ihrer Ansicht nach in verfassungswidriger Weise zu geringen Höhe der Regelleistung begründeten; aus vorherigen, vorausgeg...