Entscheidungsstichwort (Thema)
Gesetzliche Unfallversicherung. Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 2106. arbeitstechnische Voraussetzung. haftungsbegründende Tätigkeit. hinreichende Wahrscheinlichkeit. aktueller medizinisch-wissenschaftlicher Erkenntnisstand. exogener Einfluss. innere Ursache: körpereigene Struktur. keine Rechtsverbindlichkeit der Merkblätter des ärztlichen Sachverständigenbeirats beim BMAS. Druckschädigung der Nerven: TOS. Obstbauer
Orientierungssatz
1. Zur Nichtanerkennung eines Thoracic-Outlet-Syndroms (TOS) eines Obstbauers, der über 33 Jahre hinweg jährlich 8 bis 10 Wochen Pflücktätigkeiten mittels einer bis zu 20 kg Äpfel gefüllten Pflückschürze verrichtete, als Berufskrankheit gem BKV Anl 1 Nr 2106 mangels Vorliegens der arbeitstechnischen Voraussetzungen und der haftungsbegründenden Kausalität.
2. Aus dem Umstand, dass das Merkblatt zur BK 2106 in der aktuellen Fassung vom 1.10.2002 (Bundesarbeitsblatt 11/2002, Seite 62) zu den durch arbeitsbedingte Belastungen verursachten Druckschädigungen der Nerven auch das Krankheitsbild des TOS (dort Armplexusschaden (B4) C5 bis Th1 genannt) zählt, kann nicht geschlossen werden, dass es der Verordnungsgeberin darum ging festzulegen, dass Druckschädigungen der Nerven geeignet sind, ein entsprechendes Krankheitsbild hervorzurufen. Nach der Rechtsprechung des BSG haben die Merkblätter zu den einzelnen BKen nur die Bedeutung einer Informationsquelle für die Praxis, die, wenn sie sich auf dem neuesten Stand befinden, einen guten Überblick über den jeweiligen Erkenntnisstand bieten können, eine rechtliche Verbindlichkeit kommt ihnen aber nicht zu.
Nachgehend
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Stade vom 5. Mai 2010 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Anschlussberufung des Klägers wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob und ggf. seit wann bei dem Kläger eine Berufskrankheit (BK) vorliegt und ob bzw. in welcher Höhe ihm deswegen Rente aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen ist.
Der im September 1952 geborene Kläger arbeitete ab April 1971 zunächst als Schriftsetzer und medizinisch technischer Assistent. Daneben war er bereits seit 1970 als mithelfendes Familienmitglied auf einem Obstbauernhof erwerbstätig. Zum 1. Oktober 1985 übernahm er dieses Unternehmen und führte es bis 2004. Mit Schreiben vom 9. September 2002 teilte der Kläger der Beklagten mit, er leide seit 1997 an Beschwerden im Bereich des Halses und der linken Schulter mit Ausstrahlung in den linken Arm und den Brustkorb. Er vermute einen Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit. In einem von ihm am 29. September 2002 unterzeichneten Fragebogen gab er an, die von ihm zu erbringenden Arbeiten bestünden im Wesentlichen aus dem Baumschnitt. Sie seien auch mit Schlepper- und Gabelstaplereinsatz verbunden. Mit Schreiben vom 19. Januar 2003 teilte der Kläger u. a. noch mit, die Ernte des Kernobstes erfolge seit Jahrzehnten in sog. Pflückschürzen. Hierbei handele es sich um mit Tragegurten versehene große Gewebetücher, die um Hals und Schultern sowie um die Hüfte gebunden würden, wobei die gegenüberliegende Tuchseite bei Rechtshändern über der linken Schulter und dem Rücken getragen werde. Die Früchte würden in die Schürze gepflückt und anschließend in hölzerne Transportkisten umgefüllt. Die Schürzen fassten ca. 20 Kilogramm (kg) Kernobst.
Das den Schulter-Nacken- und Armbereich des Klägers betreffende Leiden wurde von den behandelnden Ärzten zunächst als statischer Nackenschmerz bei muskulärer Fehlsteuerung, Wurzelreizsyndrom C7 links ohne weitere Korrelate sowie als chronisches Cervicobrachialsyndrom links mit myofascialer Irritation der Halswirbelsäule (HWS) eingeordnet (vgl. Berichte des Neurologen Dr. I. - J. Kliniken K. - vom 5. September 2001 und 7. Juni 2002, des Arztes für Orthopädie Dr. L. vom 8. Mai 2001, Entlassungsbericht des Chefarztes der Rheumaklinik M. Dr. N. vom 12. Dezember 2002 und Bericht des PD Dr. O. - P. Krankenhaus Q. - vom 17. November 2004).
Die Beklagte leitete daraufhin u. a. ein Verwaltungsverfahren zur Feststellung der BK Nr. 2106 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) - Druckschädigung der Nerven - ein (im Folgenden: BK 2106) und befragte ihren Präventionsdienst zu den arbeitstechnischen Voraussetzungen. Dieser führte in seiner Stellungnahme vom 25. April 2003 zusammenfassend u. a. aus, dass gefährdende Tätigkeiten im Sinne der BK 2106 nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden könnten, da der Kläger zumindest an ca. 8 bis 10 Wochen im Jahr im Zusammenhang mit den Pflücktätigkeiten von Äpfeln eine Pflückschürze auf den Schultern (gekreuzt) getragen habe, wobei über die Gurtbänder der Schürze Druck auf die Schultergelenke ausgeübt worden sei. Die Baumschnittarbeiten mit den vom Kläger eingesetzten Schneidwerkzeugen seien nach dortiger Einschätzung ...