Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. unentgeltliche Beförderung. kostenlose Wertmarke. Pflegeheim. ausreichende Rente zur Deckung des Lebensunterhalts. nicht ausreichende Rente zur Deckung der Heimkosten. erforderliche Leistungen der Hilfe zur Pflege. keine Befreiung von der Eigenbeteiligung für die unentgeltliche Nutzung des Nahverkehrs. Kürzung des zur Verfügung stehenden Barbetrags im Pflegeheim. Schlechterstellung gegenüber Sozialhilfeempfängern und -empfängerinnen ohne vorherige Zahlung von Sozialversicherungsbeiträgen. gesetzgeberischer Handlungsbedarf. für den Lebensunterhalt laufende Leistungen. tatsächlicher Zufluss. Grenzen der Analogie. Verfassungsrecht. Gleichheitssatz. menschenwürdiges Existenzminimum

 

Orientierungssatz

1. Die unterschiedliche Heranziehung zur Kostenbeteiligung für die unentgeltliche Beförderung nach § 228 SGB 9 2018 kann dazu führen, dass Beziehern und Bezieherinnen von Hilfen zur Pflege, die durch ihre (mit Sozialversicherungsbeiträgen erworbene) Rente und Pflegeversicherungsleistungen sowie durch Unterhaltsleistungen von Angehörigen zu den Kosten ihrer Unterbringung im Alten- und Pflegeheim in ganz erheblichem Umfang beitragen, im Ergebnis monatlich weniger bereite Mittel (hier in Form des Barbetrags) zur Verfügung stehen, als Beziehern und Bezieherinnen von Fürsorgeleistungen, die keinerlei Sozialversicherungsbeiträge entrichtet haben.

2. Diese Situation lässt sich indessen nur durch den Gesetzgeber, nicht aber durch die Gerichte verändern.

3. Zwar sind von § 228 Abs 4 Nr 2 SGB 9 2018 auch für den Lebensunterhalt laufende Leistungen erfasst, die in entsprechender Anwendung des Dritten und Vierten Kapitels des SGB 12 an Personen erbracht werden, die Sozialhilfeempfängern und -empfängerinnen im Wesentlichen gleichstehen (vgl BSG vom 6.10.2011 - B 9 SB 7/10 R = BSGE 109, 154 = SozR 4-3250 § 145 Nr 2).

4. Werden aber nur Hilfen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel des SGB 12 gewährt, besteht kein Anspruch auf Ausgabe einer kostenlosen Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung im öffentlichen Personenverkehr (ebenso LSG Essen vom 14.5.2021 - L 13 SB 65/19; LSG München vom 29.1.2019 - L 18 SB 176/18 NZB; LSG Neubrandenburg vom 4.8.2014 - L 3 SB 67/13 B PKH; vgl auch BSG vom 13.12.1994 - 9 RVs 7/93 = RdLH 1996, Nr 1, 35 zum Bezug von Pflegegeld).

5. Hierin liegt weder ein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG noch gegen das Grundrecht auf Gewährung eines menschenwürdigen Existenzminimums nach Art 1 Abs 1 GG iVm Art 20 Abs 1 GG.

6. Die Befreiung vom Kostenbeitrag für die unentgeltliche Beförderung nach § 228 Abs 4 Nr 2 SGB 9 2018 setzt im Übrigen auch stets einen tatsächlichen Zufluss von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts voraus (vgl BSG vom 17.7.2008 - B 9/9a SB 11/06 R = SozR 4-3250 § 145 Nr 1).

7. Ein solcher tatsächlicher Zufluss von lebensunterhaltssichernden Sozialleistungen ist nicht gegeben, wenn dem behinderten Menschen ein dem § 27 Abs 2 SGB 12 entsprechender Barbetrag lediglich aus seinem eigenen Einkommen (vor Abzug der Heimkosten) ausgekehrt wird und als bloße Berechnungsposition für die (zusätzlich erforderliche) Hilfe zur Pflege nach § 27b SGB 12 dient (Aufgabe von LSG vom 19.12.2016 - L 10 SB 54/15).

 

Tenor

Auf die Berufung des beklagten Landes wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 24. Juni 2022 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist die Erstattung von 91,00 €, die die Klägerin für eine an sie ausgegebene Wertmarke zur unentgeltlichen Beförderung schwerbehinderter Menschen im öffentlichen Personenverkehr entrichtet hat.

Die in J. geborene Klägerin lebt in dem Alten- und Pflegeheim K. in L. und erhält vom Landkreis L. zur Deckung der Heimkosten Hilfe zur Pflege nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) XII. Der Bedarfsberechnung (Anlage zum Bescheid vom 22. Juli 2021) wurden für den Monat Juli 2021 die Regelaltersrente der Klägerin i.H.v. 913,82 €, Ehegattenunterhalt i.H.v. 448,52 € und Leistungen der Pflegekasse unter Berücksichtigung des Pflegegrades der Klägerin zu Grunde gelegt. Aus der Bedarfsberechnung ergab sich ein Anspruch der Klägerin auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem 4. Kapitel des SGB XII i.H.v. 0,00 € und ein Anspruch auf Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des SGB XII i.H.v. 1.013,12 €, die an das Alten- und Pflegeheim ausgezahlt wurden.

Bei der Berechnung war auch ein sog. „weiterer notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen in Gestalt eines Barbetrages i.H.v. 120,42 € (abzüglich der von der Klägerin geschuldeten Rückzahlung für ein Darlehen i.H.v. 4,46 €) und einer Bekleidungspauschale i.H.v. 23,50 €, also insgesamt i.H.v. 139,46 € berücksichtigt worden. Zuvor hatte der Landkreis L. bereits mit Bescheid vom 30. Juni 2021 entschieden, der Klägerin stehe ein Grundbarbetrag i.H.v. 27 % aus 446,00 €, mithin 120,42 € zu, wovon die Klägerin das Darlehen mit 4,46 € zurückzahlen müsse...

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