Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. sexueller Missbrauch eines Kindes. Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG. Glaubhaftigkeitsgutachten. Unmöglichkeit der Feststellung einer relativen Wahrscheinlichkeit durch den Sachverständigen. sozialgerichtliches Verfahren
Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten nach § 15 KOVVfG.
Orientierungssatz
1. Beweisfragen, ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als „in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft“ oder „mit relativer Wahrscheinlichkeit glaubhaft“ zu beurteilen seien, können von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden.
2. Daraus ergibt sich, dass dem aussagepsychologischen Sachverständigen grundsätzlich keine besonderen Beweisfragen allein im Hinblick auf den Beweismaßstab des § 15 KOVVfG gestellt werden müssen. Es ist und bleibt Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt zu würdigen - womöglich unter Heranziehung eines „normalen“ Glaubhaftigkeitsgutachtens - und sich eine Meinung dazu zu bilden, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad die Angaben zutreffen und ob sie bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten relativ am wahrscheinlichsten sind (Abgrenzung zu BSG vom 17.4.2013 - B 9 V 3/12 R = USK 2013-34).
3. Allein die Möglichkeit, dass ein frühkindlicher Missbrauch zu bestimmten Krankheitsbildern und Verhaltensweisen führen kann, reicht nicht aus, um bei Vorliegen der entsprechenden Krankheitsbilder und Verhaltensweisen den Beweis als geführt anzusehen, der angeschuldigte Angriff habe so tatsächlich stattgefunden (vgl LSG Celle-Bremen vom 5.6.2008 - L 13 VG 1/05).
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 31. März 2011 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente gemäß § 1 OEG i.V.m. den Vorschriften des BVG.
Die 2002 geborene Klägerin beantragte im Juni 2008 durch ihren Prozessbevollmächtigten bei dem Beklagten Beschädigtenversorgung mit der Begründung, Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch ihren Vater (I.) geworden zu sein. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Folgendes zugetragen:
Im Januar 2007 unterrichtete das Amt für soziale Dienste das Amtsgericht J. darüber, dass die Klägerin im Oktober 2006 von K. kommend mit ihrem allein sorgeberechtigtem Vater nach J. gezogen sei. Die Klägerin stamme aus der ersten Ehe des Kindesvaters, über die Kindesmutter (L.) sei nichts bekannt. Die zweite Ehefrau des leiblichen Vaters habe für die Klägerin die Mutterrolle übernommen, die Klägerin glaube, dass diese Frau ihre Mutter sei, sie kenne ihre leibliche Mutter nicht. Seit dem 15. Oktober 2006 erhalte die Familie keine Leistungen mehr von der Agentur für Arbeit, weil der Kindesvater sich in J. nicht ordnungsgemäß angemeldet habe, wovon die Familie gelebt habe, sei nicht nachvollziehbar. Aufgrund ausgeübter Straftaten sei der Vater der Klägerin inhaftiert worden; der letzte Antrag auf Haftverschonung vom 4. Januar 2007 sei abgelehnt worden, mit der Folge, dass der Vater voraussichtlich noch in dieser Woche für 18 Monate inhaftiert werde. Die Klägerin solle nach dem Willen des Kindesvaters in der Zeit der Inhaftierung von seiner Mutter (M., geb. 5. Juli 1957) und seiner Schwester (N., geb. 9. Mai 1988) versorgt und betreut werden. Insoweit sei jedoch Sorge um das Wohl des Kindes angebracht, denn das leibliche Kind der N. sei untergebracht, ein Kontakt zu diesem Kind bestehe nicht. In einem Gutachten werde N. attestiert, dass sie aufgrund ihrer Persönlichkeit nicht in der Lage sei, ein Kleinkind verlässlich zu betreuen. In demselben Gutachten werde auch der Mutter des Kindesvaters, Frau M., attestiert, dass sie aufgrund ihrer Persönlichkeitsstörung nicht dazu in der Lage sei, emotional stabile Beziehungen aufzubauen bzw. zu unterhalten; die eigenen Kinder seien zum Teil über viele Jahre untergebracht gewesen. In der dargestellten Familienentwicklung sei in dem Gutachten von häufigem sexuellen Missbrauch die Rede. Die Klärung mit dem Vater der Klägerin über den Verbleib der Klägerin während der Zeit der Inhaftierung sei mit diesem nicht möglich; selbst feststehende Fakten (Inhaftierung) würden von ihm in Abrede gestellt. Ebenfalls sei bekanntgeworden, dass sich der Vater der Klägerin in der Vergangenheit wenig um sein Kind gekümmert habe. Vielmehr solle seine zweite Ehefrau, Frau O. das Kind erzogen haben. Diese Frau sei allerdings nicht zur Aufnahme der Klägerin bereit. Aus vorgenannten Gründen sei das Kindeswohl gefährdet, sodass das Kind in Obhut genommen und in einer Pflegestelle untergebracht werden müsse.
Daraufhin wurde die Klägerin seit dem 19. Januar 2007 in einer Pflegefamilie (P. und Q.) untergebracht. Mit weiterem Bericht vom 5. Dezember 2007 berichtete das Amt für soziale Dienste des Landkreises Goslar dem Amtsgericht Goslar, dass zwischen der Klägerin und ihrem Vater sowie dessen Verwandtsch...