Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. DDR-Unrecht. angebliche Verschleppung und Folter durch Stasi. Jahresfrist des § 10c OEG. Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG. Glaubhaftigkeitsgutachten. Unmöglichkeit der Feststellung einer relativen Wahrscheinlichkeit durch den Sachverständigen. sozialgerichtliches Verfahren
Leitsatz (amtlich)
Zu den Anforderungen an Glaubhaftigkeitsgutachten nach § 15 KOVVfG.
Orientierungssatz
1. Beweisfragen, ob Aussagen über einen inkriminierten Sachverhalt als “in hohem Maße wahrscheinlich glaubhaft„ oder “mit relativer Wahrscheinlichkeit glaubhaft„ zu beurteilen seien, können von aussagepsychologischen Sachverständigen nicht beantwortet werden.
2. Daraus ergibt sich, dass dem aussagepsychologischen Sachverständigen grundsätzlich keine besonderen Beweisfragen allein im Hinblick auf den Beweismaßstab des § 15 KOVVfG gestellt werden müssen. Es ist und bleibt Aufgabe des Gerichts, den Sachverhalt zu würdigen - womöglich unter Heranziehung eines “normalen„ Glaubhaftigkeitsgutachtens - und sich eine Meinung dazu zu bilden, mit welchem Wahrscheinlichkeitsgrad die Angaben zutreffen und ob sie bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten relativ am wahrscheinlichsten sind (Abgrenzung zu BSG vom 17.4.2013 - B 9 V 3/12 R = USK 2013-34).
3. Der Einbeziehung von § 10c OEG in das Opferentschädigungsgesetz darf nicht die Wertung entnommen werden, dass Ansprüche aus “alten„ DDR-Taten (hier angebliche Verschleppung, Vergewaltigung und Folter durch die Staatssicherheit) nur dann entschädigt werden können, wenn der Antrag innerhalb eines Jahres nach dem Beitritt gestellt worden ist (vgl LSG München vom 18.2.2014 - L 15 VG 2/09).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 19. April 2013 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um einen Anspruch der Klägerin auf Beschädigtenrente und Heilbehandlung gemäß § 1 OEG i.V.m. den Vorschriften des BVG.
Die im Oktober 1949 geborene Klägerin beantragte im Juni 1999 beim Versorgungsamt Braunschweig (Außenstelle Hildesheim) Beschädigtenversorgung. Zur Begründung gab sie wörtlich an: “Am 9.9. um 22.45 Uhr klingelten zwei Männer an meiner Wohnungstür, wiesen sich als Kripo aus und sagten, ich solle mitkommen zur Klärung eines Sachverhaltes. Im Auto wurden mir die Augen verbunden und im Gefängnis die Binde abgenommen. Schlimme Verhöre mit Folter, Misshandlung und Vergewaltigung erfolgten. 3-4 Männer fast rund um die Uhr. Ich wäre Staatsfeind weil keine Jugendweihe und FDJ-Mitgliedschaft der Kinder. Ausreiseantrag gestellt. Am 13.9. Entlassung.„ Tatort sei das I. -Gefängnis in J. gewesen. An Schädigungsfolgen seien u. a. psychosomatische Folgen und Zahnverlust eingetreten. Die Krankenkasse übernehme keine Therapiekosten mehr, sie sei jedoch dringend auf eine Therapie angewiesen.
Das Versorgungsamt leitete den Antrag der Klägerin an das für die beantragte Leistung zuständige Versorgungsamt Chemnitz weiter. Dieses zog bei der zuständigen Staatsanwaltschaft Dresden die Ermittlungsakten (Az.: 812 Js 10933/98) bei. Aus den Ermittlungsakten ergab sich Folgendes: Die Klägerin hatte am 16. Oktober 1997 gegen den Beschuldigten/Tatverdächtigen K. Strafanzeige wegen sexueller Nötigung in der Zeit vom 9. bis 13. September 1989 gestellt und hierzu angegeben, dass sie in der UHA des MfS L. durch mehrere Bedienstete und den Beschuldigten vergewaltigt und sexuell genötigt worden sei. In ihrer Vernehmung durch die Staatsanwältin M. am 15. Oktober 1997 hatte die Klägerin angegeben, im Tatzeitraum in N. im Erzgebirge gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem damals 16jährigen Sohn O. gewohnt zu haben. Es seien schlechte Wohnverhältnisse gewesen und sie habe schon immer an den Rat des Kreises geschrieben und sich danach erkundigt, wann sie eine andere Wohnung bekommen könnten. Trotz diverser Nachfragen und Eingaben habe sich absolut nichts getan. Nachdem sie 1987 einen Ausreiseantrag gestellt habe, sei sie arbeitslos geworden. Zuvor sei sie im Universitätskinderklinikum in P. als Kinderkrankenschwester tätig gewesen. 1986 habe sie in einer Lederwarenfabrik in Q. eine Tätigkeit im Betriebsschutz (Pförtner mit Telefondienst) aufgenommen und dort sei auch ihr damaliger Vorgesetzter K. gewesen, gegen den sie Anzeige erstatten wolle. Sie sei dann arbeitslos geworden und zweimal in der Woche von verschiedenen Leuten der Staatssicherheit besucht worden, die gesagt hätten “entweder du arbeitest für uns oder du findest überhaupt keine Arbeit mehr„. Dann sei ihr 1989 gesagt worden “dich kriegen wir auch noch klein„. Nachdem sie dann noch einmal einen Antrag auf eine neue Wohnung gestellt habe und sich erneut in dieser Hinsicht nichts getan hätte, sei sie am 9. September 1989 abends um dreiviertel elf abgeholt worden. Sie sei aufgefordert worden, zur Klärung eines S...