Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. Anspruch des Sohnes eines getöteten Drogenkonsumenten auf Halbwaisenrente. Unbilligkeit. Drogenmilieu. gelegentlicher Konsum weicher Drogen

 

Leitsatz (amtlich)

Zu den Anforderungen an die Zugehörigkeit zu einer Drogenszene als Voraussetzung der Versagung von Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz wegen Unbilligkeit im Sinne von § 2 Abs 1 S 1 OEG.

 

Orientierungssatz

Der bloß gelegentliche Konsum weicher Drogen vermag noch keine Zugehörigkeit zum Drogenmilieu zu begründen (so auch LSG Darmstadt vom 28.5.2008 - L 4 VG 3/07 ZVW).

 

Normenkette

OEG § 2 Abs. 1 S. 1, § 1 Abs. 1 S. 1; BVG § 45 Abs. 3

 

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 17. Mai 2010 abgeändert. Der Bescheid des Beklagten vom 16. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 5. Februar 2008 wird aufgehoben und der Beklagte verurteilt, dem Kläger Halbwaisenrente dem Grunde nach ab Mai 2006 zu gewähren.

Der Beklagte hat 3/4 der notwendigen außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Der Kläger begehrt von dem Beklagten Halbwaisenrente gemäß § 1 OEG i.V.m. § 45 BVG.

Der am 16. Juli 1988 geborene Kläger ist der Sohn des am 18. April 2006 verstorbenen I.. Der Vater des Klägers wurde am 18. April 2006 als Opfer eines Raubüberfalles in der Wohnung seines Bekannten J. durch mehrere Messerstiche getötet. Ebenfalls in der Wohnung lebte der Neffe des J., K.. In der Wohnung wurde mit Drogen gehandelt. Ziel des Raubüberfalles war es, Drogen und Bargeld zu erbeuten. Zwei der vier Täter wurden mit Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 27. Dezember 2006 rechtskräftig wegen versuchter schwerer räuberischer Erpressung mit Todesfolge in Tateinheit mit Körperverletzung mit Todesfolge in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt. Die Täter waren Betäubungsmittelkonsumenten. Gleiches gilt für L. und K. sowie für den getöteten I.. So ergab die toxikologische Untersuchung des Vaters des Klägers anlässlich seiner Obduktion einen positiven Befund für einen wiederholten intensiven Konsum von Haschisch oder Marihuana weniger als zwei Stunden vor dem Eintritt des Todes. Nach dem Ergebnis der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen wurden von L. und K. in deren Wohnung Drogen verkauft. Bei der polizeilichen Wohnungsdurchsuchung am Tattag wurden drei Platten Haschisch und getrocknete Substanzen sowie 1000,00 € Bargeld in auffälliger Stückelung gefunden. Nach den Feststellungen im Urteil des Landgerichts Braunschweig vom 27. Dezember 2006 habe sich der Vater des Klägers zum Zeitpunkt des Überfalls im sogenannten Computerzimmer der Wohnung des J. befunden. Zwei der Täter seien zielgerichtet in dieses Zimmer gelaufen, in dem sie das Geld und die Drogen vermutet hätten. Dort seien sie auf I. getroffen, den sie im ersten Moment für den Mieter der Wohnung, M., gehalten hätten. Als der Vater des Klägers aufgestanden sei und gefragt habe, was das solle, habe er von einem der Täter sofort mit einem Schlagstock einen Schlag gegen den Rücken erhalten und sei aufgefordert worden, das Geld herauszugeben. I. habe dann Gegenwehr geleistet, woraufhin ihm weitere Schläge mit dem Schlagstock sowie zahlreiche, zum Teil lebensgefährliche, Messerstiche zugefügt worden seien, in deren Folge er kurze Zeit später verstorben sei.

Am 23. April 2006 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Gewährung von Bestattungsgeld und am 2. Juni 2006 die Gewährung von Halbwaisenrente. Mit Bescheid vom 16. März 2007 lehnte der Beklagte den Antrag auf Gewährung einer Hinterbliebenenrente und mit Bescheid vom 25. April 2007 den Antrag auf Gewährung von Bestattungsgeld ab. Zur Begründung führte er aus, dass der Getötete zwar Opfer eines vorsätzlichen, rechtswidrigen und tätlichen Angriffs i.S.v. § 1 Abs. 1 OEG geworden sei, jedoch ein Versagungsgrund nach § 2 Abs. 1, 2. Alternative OEG vorliege. Der Getötete sei Drogenkonsument gewesen und die Tat habe sich innerhalb der Drogenszene ereignet. Der Vater des Klägers habe sich in einer Wohnung aufgehalten, die als Umschlagplatz für die Drogenszene bekannt gewesen sei und die ständig von unzähligen Drogenkonsumenten und Kleindealern aufgesucht worden sei. In diesem Umfeld habe jederzeit mit Gewaltkriminalität, wie z.B. der gewaltsamen Aneignung von Drogen und Bargeld, gerechnet werden müssen.

Am 27. März 2007 legte der Kläger gegen die Ablehnung der Gewährung von Hinterbliebenenrente und am 4. Mai 2007 gegen die Ablehnung der Gewährung von Bestattungsgeld Widerspruch ein. Zur Begründung führte er jeweils aus, dass sein Vater nicht zur Drogenszene gehört habe. Er habe selbst nicht mit Drogen gehandelt und sei auch nicht in den Drogenhandel verstrickt gewesen. Er sei lediglich Konsument weicher Drogen gewesen, die er nicht regelmäßig zu sich genommen habe. I. sei zum Tatzeitpunkt wohnungslos gewesen und habe sich nur zeitweilig, da er h...

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