Entscheidungsstichwort (Thema)
Bewilligung von Grundsicherungsleistungen für einen rumänischen Staatsangehörigen mit erteilter Freizügigkeitsbescheinigung durch einstweiligen Rechtsschutz
Orientierungssatz
1. Voraussetzung für die Bewilligung von Grundsicherungsleistungen ist u. a. die Erwerbsfähigkeit des Antragstellers. Bedingung der rechtlichen Erwerbsfähigkeit bei Ausländern ist nach § 8 Abs. 2 S. 1 SGB 2, dass die Aufnahme einer Beschäftigung erlaubt ist oder erlaubt werden könnte. Das ist dann der Fall, wenn der Ausländer eine Beschäftigung vorbehaltlich einer Zustimmung nach § 39 AufenthG aufnehmen kann. Zu bejahen ist das dann, wenn ein konkretes Arbeitsplatzangebot vorliegt, kein bevorrechtigter Arbeitnehmer für die konkrete Beschäftigung zur Verfügung steht und die Arbeitsbedingungen mit denen inländischer Arbeitnehmer vergleichbar sind.
2. Es bestehen erhebliche Zweifel daran, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. SGB 2, wenn sich das Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist. Ein Anspruch des ausländischen Unionsbürgers kann sich unmittelbar aus primärem Gemeinschaftsrecht ergeben.
3. Für Unionsbürger gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 12 EG, mit der Folge, dass Unionsbürger nicht von einer finanziellen Leistung ausgenommen werden können, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedsstaates erleichtern soll. Im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH ist in höchstem Maß zweifelhaft, ob eine Regelung wie § 7 Abs. 1 S. 2 SGB 2, die ausschließlich an die Staatsangehörigkeit anknüpft, den Vorgaben des primären Gemeinschaftsrechts standhält.
4. Infolgedessen ist die Rechtslage des Leistungsausschlusses nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB 2 bei einem rumänischen Staatsbürger, dem eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizüG/EU erteilt ist, in einem vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht zuverlässig abschließend zu beurteilen. Die danach allein entscheidende Folgenabwägung fällt zugunsten des Antragstellers aus. Weil die Zuerkennung der Leistungen im Ergebnis einen Zustand schafft, der in seinen wirtschaftlichen Auswirkungen der Vorwegnahme in der Hauptsache gleichkommt, sind die Leistungen nicht bereits ab Antragstellung, sondern erst ab dem Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren zu gewähren.
Tenor
Auf die Beschwerde der Antragsteller wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 09.02.2011 geändert. Der Antragsgegner wird verpflichtet, den Antragstellern vorläufig für die Zeit ab dem 17.05.2011 bis zur Bestandskraft des angefochtenen Bescheides vom 19.10.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.12.2010, längstens jedoch bis zum 17.11.2011 Regelbedarfe für die Antragsteller zu 1) und 2) in Höhe von monatlich 328,00 Euro sowie Sozialgeld für die Antragsteller zu 3) und 4) in Höhe von monatlich 275,00 Euro abzüglich des Kindergeldes in Höhe von je 184,00 Euro sowie Bedarfe für Kosten der Unterkunft und Heizung in Höhe von 122,50 Euro je Antragsteller zu gewähren.
Der Antragsgegner trägt die erstattungsfähigen außergerichtlichen Kosten der Antragsteller in beiden Rechtszügen.
Gründe
I.
Der 1969 geborene Antragsteller zu 1), die 1975 geborene Antragstellerin zu 2) und deren Kinder, die 1992 und 1995 geborenen Antragsteller zu 3) und 4) sind rumänische Staatsangehörige. Sie reisten am 30.09.2008 in die Bundesrepublik ein. Dem Antragsteller zu 1) wurde am 24.06.2009 eine Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 Freizügigkeitsgesetz EU (FreizügG/EU) erteilt.
Zum 01.10.2009 mieteten die Antragsteller eine Wohnung auf der U-Straße 00, H an, wo sie seither wohnen. Die Antragsteller zu 3) und 4) gehen zur Schule. Einen Antrag der Antragsteller auf Gewährung von Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) vom 05.10.2009 lehnte der Antragsgegner mit bindendem Bescheid vom 01.12.2009 ab. In der Folgezeit lebten die Antragsteller von Einkünften, die sie durch den Verkauf der Obdachlosenzeitung G in E erzielten, von dem für die Antragsteller zu 3) und 4) gezahlten Kindergeld sowie den Leistungen karitativer Einrichtungen (Diakonie, Tafel e.V. H) und kleineren Leihbeträgen von Verwandten und Bekannten.
Am 11.10.2010 beantragten die Antragsteller bei dem Antragsgegner (erneut) Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II). Den Antrag lehnte der Antragsgegner durch Bescheid vom 19.10.2010 und Widerspruchsbescheid vom 16.12.2010 unter Hinweis auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ab. Nach dieser Vorschrift seien die Antragsteller, die sich lediglich zum Zwecke der Arbeitssuche in der Bundesrepublik aufhielten, nicht leistungsberechtigt. Die Antragsteller haben Klage beim Sozialgericht Gelsenkirchen unter dem Aktenzeichen S 31 AS 47/11 erhoben.
Am 17.12.2010 haben die Antragsteller beim Sozialgericht Gelsenkirchen beantragt, den Antragsgegner zu verpflichten, ihnen Leistungen nach dem SGB II zu gewähren.
Das SG hat den Antrag mit Beschluss vom...