Entscheidungsstichwort (Thema)
Neuer Leistungsantrag. Zäsur des streitbefangenen Zeitraums. Bescheide für Folgezeiträume. Gegenstand des Vor- und des Klageverfahrens. Eilverfahren. Anordnungsanspruch. Anordnungsgrund. Glaubhaftmachung. Summarische Prüfung. Abschließende Prüfung. Folgenabwägung. Bestandkraft eines Ablehnungsbescheides. Überprüfung. Fiktionsbescheinigung. Zukunftsoffener Aufenthalt. Mangelnde Bleibeperspektive. Aufenthaltsrecht. Ausschlussregelung für Ausländer. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Begriff des "Aufenthaltsrechts" iS des § 7 Abs 1 S 2 Nr 2 Buchst a SGB II
Leitsatz (redaktionell)
1. Ein neuer Leistungsantrag führt zur Zäsur des streitbefangenen Zeitraums und Bescheide für Folgezeiträume werden nicht Gegenstand des Vor- und des Klageverfahrens.
2. Die Glaubhaftmachung bezieht sich auf die reduzierte Prüfungsdichte und die nur eine überwiegende Wahrscheinlichkeit erfordernde Überzeugungsgewissheit für die tatsächlichen Voraussetzungen des Anordnungsanspruchs und des Anordnungsgrundes im summarischen Verfahren; können ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen entstehen, die durch das Hauptsachverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, sind die Erfolgsaussichten der Hauptsache nicht nur summarisch, sondern abschließend zu prüfen; scheidet eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren aus, ist auf der Grundlage einer an der Gewährleistung eines effektiven Rechtsschutzes orientierten Folgenabwägung zu entscheiden, wobei die grundrechtlichen Belange der Antragsteller umfassend in die Abwägung einzustellen sind.
3. Die Bestandkraft eines Ablehnungsbescheides steht einem im Eilverfahren geltend gemachten Anspruch nicht entgegen, wenn dessen Überprüfung beantragt worden ist; in dieser Konstellation ist eine einstweilige Anordnung jedenfalls nicht generell ausgeschlossen, wenn auch besondere Anforderungen an den Anordnungsanspruch zu stellen sein mögen.
4. Im Falle der Erteilung einer Fiktionsbescheinigung im Rahmen von § 16a bzw. § 16b AufenthG ist von einem zumindest noch zukunftsoffenen Aufenthalt und nicht von einer mangelnden Bleibeperspektive auszugehen.
5. Es spricht einiges dafür, dass der Gesetzgeber mit dem Begriff des Aufenthaltsrechts nicht an das AufenthG anknüpfen wollte, sondern vielmehr (nur) an das FreizügG/EU.
6. Dem Wortlaut des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 lit. a SGB II lässt sich nicht zweifelsfrei entnehmen, dass die Ausschlussregelung auch Ausländer erfasst, deren Aufenthalt als erlaubt gilt und die deswegen über eine Fiktionsbescheinigung i.S.d. § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG verfügen.
Normenkette
SGG §§ 86, 96 Abs. 1, § 202; ZPO § 294; SGB X § 44; SGB II § 7 Abs. 1 Sätze 1, 2 Nrn. 2-3, § 7 Ab S. 3, § 8 Abs. 2, §§ 9, 37 Abs. 2 S. 2; AufenthG §§ 16a, 16b, 23 Abs. 1, § 24 Abs. 1, § 25 Abs. 4 S. 1, Abs. 5, § 81 Abs. 3 Sätze 1-2, Abs. 5; FreizügG/EU § 2 Abs. 2; VO (EU) Nr. 492/2011 Art. 10; AsylbLG § 1 Abs. 1 Nrn. 3, 8 lit. a; AsylbLG § 1 Abs. 1 Nr. 8 lit. b
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 02.06.2023 geändert.
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II zur Deckung des Regelbedarfs ab dem 21.02.2023 bis zum 31.03.2023 zu gewähren. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.
Der Antragsgegner hat 1/5 der außergerichtlichen Kosten des Antragstellers für beide Rechtszüge zu erstatten. Im Übrigen findet eine Kostenerstattung nicht statt.
Gründe
I.
Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die vorläufige Verpflichtung des Antragsgegners, ihm Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch - Bürgergeld, Grundsicherung für Arbeitsuchende - (SGB II) zu gewähren.
Der 1989 geborene Antragsteller ist libyscher Staatsangehöriger und hielt sich bis zu seiner Einreise in das Bundesgebiet am 17.03.2022 als arbeitender Studierender in der Ukraine auf. Er verfügt über einen am 30.08.2021 ausgestellten ukrainischen Lichtbildausweis, der eine bis zum 31.03.2023 befristete Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers dokumentiert.
Mit Bescheid vom 23.03.2022 wies die Bezirksregierung Arnsberg den Antragsteller, der sich seit seiner Einreise in Q. aufhielt, der Beigeladenen zu und verpflichtete ihn, seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort zu nehmen. Seit dem 01.08.2022 bewohnt der Antragsteller die von der Beigeladenen zugewiesene Wohnung im Haus F.-straße 7 in S., für die eine monatliche Gesamtgebühr von 205,12 EUR zu zahlen ist. An dieser Adresse ist er auch gemeldet.
Unter dem 05.08.2022 erhielt der Antragsteller zunächst eine Fiktionsbescheinigung gemäß § 81 Abs. 3 Satz 1 Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (Aufenthaltsgesetz - AufenthG) gültig bis zum 04.11.2022 mit der Nebenbestimmung "Er...