Entscheidungsstichwort (Thema)

Einstweiliger Rechtsschutz. Grundsicherung für Arbeitsuchende. Aufgabenübertragung auf die BA. Forderungseinzug. Antrag auf Forderungserlass. Unbilligkeit der Einziehung bei Existenzgefährdung. Aussetzung der Vollstreckung durch das Rechtsmittelgericht

 

Orientierungssatz

1. Die Einziehung einer Forderung des Grundsicherungsträgers kann gemäß § 44c Abs 2 S 2 Nr 4, 44b Abs 4 SGB 2 als einzelne Aufgabe der Bundesagentur für Arbeit als Träger iS des § 6 Abs 1 Nr 1 SGB 2 zur Wahrnehmung überlassen werden.

2. Wird in einem laufenden Verfahren der Erlass einer Forderung geltend gemacht, so führt dies dazu, dass die Einziehung der Forderung während des Verfahrens rechtsmissbräuchlich ist; daher ist die Einziehung vorläufig einzustellen (BSG Urteil vom 29.10.1992 - 13/5 RJ 36/90 = BSGE 69, 301 = SozR 3-2400 § 76 Nr 1). Die persönlichen und wirtschaftlichen Belange des Betroffenen sind dann im einstweiligen Rechtsschutz abzuwägen mit dem öffentlichen Interesse an der Einziehung der Forderung des Leistungsträgers.

3. Der Leistungsträger bleibt zur Sicherung der Existenz des Betroffenen verpflichtet. Von einer Unbilligkeit der Einbeziehung der Forderung ist auszugehen, wenn die Einziehung für diesen existenzgefährdend wirken würde.

4. Die Einziehung einer Forderung kann auch außerhalb eines Vollstreckungsverfahrens bereits erhebliche Nachteile für den Betroffenen nach sich ziehen. Nach § 199 Abs 2 SGG kann das Rechtsmittelgericht die Vollstreckung aus einem angefochtenen Titel durch einstweilige Anordnung aussetzen, wenn das Rechtsmittel keine aufschiebende Wirkung hat. Die Zwangsvollstreckung muss dazu noch nicht begonnen haben.

 

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Sozialgerichts Gelsenkirchen vom 02.05.2016 geändert. Der Antragsgegner und die Beigeladene werden verpflichtet, einen weiteren Forderungseinzug aus dem Bescheid vom 04.04.2014 einstweilen zu unterlassen, bis bestandkräftig über den Erlassantrag vom 22.05.2015 entschieden ist.

Der Antragsgegner hat die Kosten des Antragstellers zu erstatten. Im Übrigen sind Kosten nicht zu erstatten.

 

Gründe

I.

Der Antragsteller wendet sich im Wege der einstweiligen Anordnung gegen die Einziehung einer Forderung aus einem Bescheid vom 04.04.2014.

Mit Bescheid vom 04.04.2014 forderte der Antragsgegner den Antragsteller zur Rückzahlung von darlehensweise erbrachten Leistungen iHv 9879,85 EUR auf. Mit Schreiben vom 14.04.2014 beantragte der Antragsteller den Erlass der Forderung, mit Bescheid vom 26.05.2014 lehnte der Antragsgegner diesen Antrag ab. Mit Schreiben vom 22.05.2015 (Eingang beim Antragsgegner am 27.05.2015) beantragte der Antragsteller erneut den Erlass der Forderung.

Am 06.01.2015 haben der Antragsgegner und die Beigeladene eine "Zusatzvereinbarung nach § 44b Abs. 4 SGB II" über das Zusammenwirken bei der "Übertragung des Forderungseinzugs als Leistung nach § 44b Abs. 4 SGB II von der gE auf die zuständige Dienststelle der BA" (im Folgenden: "Vereinbarung") getroffen. Nach § 1 Abs. 2 der Vereinbarung führt die beigeladene Bundesagentur für Arbeit den Forderungseinzug im Auftrag und im Namen des Antragsgegners durch.

Mit Schreiben vom 21.03.2016 teilte die Beigeladene dem Antragsteller unter der Überschrift "Zahlungserinnerung" mit, er habe die am 22.04.2014 fällige Forderung des Antragsgegners iHv 9929,85 EUR (einschließlich Mahngebühr iHv 50 EUR) noch nicht beglichen. Die Zahlung werde bis spätestens zum 06.04.2016 erwartet. Das Schreiben enthält den Zusatz "Lassen Sie den Zahlungstermin erfolglos verstreichen, werde ich weitere Schritte gegen Sie prüfen. Dadurch können Ihnen zusätzliche Kosten sowie Unannehmlichkeiten entstehen".

Am 29.03.2016 hat der Antragsteller beantragt, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Zwangsvollstreckung aus dem Bescheid vom 04.04.2014 bis zur Entscheidung in der Hauptsache einstweilen einzustellen. Er hat vorgetragen, er habe am 22.05.2015 den Erlass der Forderung gem. § 44 SGB II beantragt. Solange über diesen Antrag noch nicht entschieden ist, sei die Vollstreckung rechtmissbräuchlich.

Mit Beschluss vom 02.05.2016 hat das Sozialgericht den Antrag abgelehnt. Es könne offen bleiben, ob der Antrag zulässig ist. Jedenfalls fehle es an einem Anordnungsgrund, da die Zwangsvollstreckung noch nicht begonnen habe.

Gegen diese Entscheidung hat der Antragsteller am 03.05.2016 Beschwerde erhoben. Aus dem Schreiben vom 21.03.2016 ergebe sich hinreichend konkret, dass die Einleitung der Zwangsvollstreckung unmittelbar bevorstehe. Es sei dem Antragsteller nicht zumutbar, den Beginn der Zwangsvollstreckung abzuwarten.

Der Antragsgegner meint, jedenfalls ein wiederholter Erlassantrag stehe der Beitreibung einer Forderung nicht entgegen.

Mit Bescheid vom 09.06.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12.08.2016 hat die Beigeladene den Erlassantrag abgelehnt. Hiergegen hat der Antragsteller bei dem Sozialgericht Gelsenkirchen Klage erhoben (S 29 AL 296/16).

II.

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