Entscheidungsstichwort (Thema)
Berücksichtigung einer Beschäftigung im Ghetto Sarny als Beitragszeit
Orientierungssatz
1. Die Anerkennung einer sog. Ghetto-Beitragszeit setzt voraus, dass eine dortige entgeltliche Beschäftigung aus eigenem Willensentschluss ausgeübt worden ist.
2. Ein rentenrechtlich relevantes Entgelt kann auch unter Ghetto-Bedingungen erst jenseits der sog. existenzsichernden Zuwendungen beginnen. Die extrem geringen Hungerrationen, welche die im Ghetto Beschäftigten erhielten, schließen die Annahme von Entgeltlichkeit aus.
3. Eine generelle tatsächliche Vermutung der Entgeltlichkeit von Ghettoarbeit ist ausgeschlossen. Das ZRBG stellt durch den Wortlaut "gegen Entgelt" ausdrücklich darauf ab, ob der Betroffene die Gegenleistung für Arbeit auch als realen Zufluss wirklich erhalten hat.
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24.04.2006 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die 1919 im damals polnischen Ort Sarny geborene Klägerin begehrt von der Beklagten Regelaltersrente nach dem Gesetz über die Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG), das der Deutsche Bundestag im Jahr 2002 einstimmig beschlossen hat (Bundesgesetzblatt Teil I - BGBl I 2074). Es geht um die Berücksichtigung einer Ghetto-Beitragszeit von August 1941 bis Oktober/November 1942 im Ghetto ihres Geburtsorts.
Über die dortige NS-Verfolgung während des zweiten Weltkriegs ist aus Überlebendenberichten Folgendes überliefert:
Anfang Juli 1941 wurde die in der Ukraine am Fluss Slusk gelegene und als Eisenbahnknotenpunkt militärisch wichtige Stadt Sarny von der deutschen Wehrmacht besetzt. Bald danach wurde dort ein jüdisches Ghetto eingerichtet. Es wurde die im Reichskommissariat Ukraine allgemein übliche Kennzeichnung durch gelbe Flecken auf Brust und Rücken angeordnet. Nachdem alle jüdischen Einwohner registriert waren, wurden die jüngeren zur Arbeit geschickt. Die Männer mussten das zerstörte Lokomotivendepot der Stadt und andere schwer beschädigte Objekte sowie die zerstörte Brücke über den Fluss in Ordnung bringen, während die Frauen für Reinigungsarbeiten verwendet wurden. Auch die Einsetzung eines Judenrates ist kurz nach dem deutschen Einmarsch dokumentiert. Die Berichte Überlebender aus Sarny stimmen darin überein, dass der Judenrat täglich 300 Männer und 100 Frauen für die Arbeiten zu stellen hatte. Die Arbeiter wurden nicht in Geld entlohnt, sondern in Brot. Darüber, ob die Versorgung des Ghettos mit Lebensmitteln über den Judenrat als Entgelt abgerechnet wurde, sind keine gesicherten Erkenntnisse vorhanden. Über die Mengen des von arbeitenden Ghettobewohnern empfangenen Brotes sind unterschiedliche Angaben überliefert (100 g, 80 g), wobei nicht mehr ermittelt werden kann, welcher Wert konkret zutrifft.
Auch für den Zeitpunkt, wann genau das Ghetto in Sarny geschlossen wurde, sind zwei unterschiedliche Zeitpunkte überliefert - entweder der 3. März 1942 oder der April 1942. Insgesamt hat das geschlossene Ghetto nur etwas mehr als vier Monate bestanden. Ab dem 23. August 1942 wurde dann unter Zuhilfenahme ukrainischer Hilfspolizei die gesamte jüdische Bevölkerung erschossen. Die Opferzahlen schwanken zwischen vierzehn- und sechstausend Menschen. Während der Erschießungen kam es zu einem teilweise erfolgreichen Ausbruch einiger Juden aus Sarny, denen es gelang, sich nach Pinsk durchzuschlagen und dort Kontakt mit Partisanen aufzunehmen.
Zur jüdischen Arbeitsorganisation im Reichskommissariat Ukraine (RKU) ist generell Folgendes bekannt:
Die Bedarfsträger (Wehrmacht, städtische Einrichtung, aber auch Private) stellten ihre Anforderungen über die jeweilige Ortskommandatur (solange es die Militärverwaltung gab, später über die Stadtverwaltung bzw. das Arbeitsamt) an den jeweiligen Judenrat, der sie dann zu erfüllen hatte. Die so geforderten Arbeitsgruppen konnten bis zu 30 bis 40 Mann stark sein. Die Judenräte hatten damit die Aufgabe, die deutschen und einheimischen ("arischen") Anforderungen in Bezug auf die Arbeitsleistung zu erfüllen. Sie hatten darüber hinaus für den inneren Betrieb des jüdischen Bevölkerungsanteils zu sorgen, was die Versorgung mit Lebensmitteln, Ärzten, etc. und die Gestellung von Wohlfahrtseinrichtungen betraf. Zu diesem Zweck erfolgte auch eine Besteuerung, der dem Judenrat zugeordneten Juden, die direkt auf dem Weg über die Löhne, oder auch indirekt über den Konsum erfolgen konnte. Nach den ersten Wochen der Besetzung, in denen Juden wahllos von Deutschen oder Einheimischen zu Arbeiten abgefangen wurden, organisierte die Militärverwaltung ab Ende Juli 1941 gemeinsam mit den nun eingesetzten Judenräten die regelmäßige Stellung von Arbeitskolonnen. Dafür richteten in Wolhynien die Judenräte die Arbeitsabteilungen bzw. Arbeitsämter ein, die die geforderten Arbeitskräfte aus der jüdischen Einwohnerschaft zu stellen hatten. Sie taten dies durch die Zuweisung...