Entscheidungsstichwort (Thema)
Verwertbarkeit eines vom Unfallversicherungsträger zur Anerkennung einer Berufskrankheit eingeholten Sachverständigengutachtens im sozialgerichtlichen Verfahren. Verletztenrente. Berufskrankheit. Quecksilber. DMPS. Cadmium. Haftungsausfüllende Kausalität. Beweiswürdigung. Amtsermittlung. Urkundenbeweis. Verwaltungsgutachten. Qualifiziertes Parteivorbringen. Beratungsärztliche Stellungnahme. Gutachten nach Aktenlage. Beweisverbot. Verwertungsverbot. Informationelle Selbstbestimmung. Nutzung von Sozialdaten. Übermittlung von Sozialdaten. Einwilligung. Widerruf. Vertretung. Rechtliches Gehör. Ermessen. Atypischer Fall
Leitsatz (amtlich)
1. Leitet der Unfallversicherungsträger eine Leistungsakte an einen Beratungsarzt weiter, der bei ihr angestellt ist, so handelt es sich um eine Datennutzung und nicht um eine Übermittlung von Sozialdaten an eine dritte Person außerhalb der verantwortlichen Stelle.
2. Der Betroffene muss die Einwilligung in eine Datenverarbeitung und den Widerruf dieser Einwilligung in eine Datenverarbeitung und den Widerruf dieser Einwilligung höchstpersönlich erklären; eine Vertretung durch Bevollmächtigte ist unzulässig.
3. § 200 Abs 2 SGB 7 gilt auch nach Abschluss des Verwaltungs- und Widerspruchsverfahrens im nachfolgenden Gerichtsverfahren.
4. Die Berufsgenossenschaft darf im laufenden Gerichtsverfahren davon absehen, dem Kläger mehrere (Beratungs-)Ärzte zur Auswahl zu benennen, die für sie zu Gerichtsgutachten Stellung nehmen sollen.
Orientierungssatz
1. Das Gericht darf sein Urteil nur auf ein qualifiziertes Parteivorbringen stützen, dem keine Beweisverbote entgegenstehen. Der Unfallversicherungsträger darf Sozialdaten nicht unbefugt erheben, sondern nur, wenn dies zur Erfüllung seiner gesetzlichen Aufgaben erforderlich ist und es für die Zwecke erfolgt, für die die Daten erhoben worden sind.
2. Beratungsärztliche Stellungnahmen oder Gutachten sind ein prozessrechtlich zulässiges Mittel des Sozialleistungsträgers, sein grundgesetzlich verbrieftes Recht auf rechtliches Gehör wahrzunehmen. Solange der Unfallversicherungsträger die Vorschrift des § 200 SGB 7 korrekt anwendet, besteht kein Verwertungsverbot des in seinem Auftrag erstellten Sachverständigengutachtens.
Normenkette
GG Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1, Art. 103 Abs. 1; SGG §§ 62, 128 Abs. 1 S. 1; SGB I § 35 Abs. 1; SGB IV § 19 S. 2; SGB VII § 200 Abs. 2, §§ 212, 214 Abs. 3 S. 1; SGB X § 20 Abs. 1, § 21 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, § 67b Abs. 1, 6-7, § 67c Abs. 1, § 76 Abs. 2 Nr. 1; ZPO § 415; BKV Anl. Nr. 1102; BKV Anl. Nr. 1104
Tenor
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 24. März 2004 wird zurückgewiesen. Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte Berufskrankheiten (BKen) nach Nrn. 1102 (Erkrankungen durch Quecksilber oder seine Verbindungen) und 1104 (Erkrankungen durch Cadmium oder seine Verbindungen) der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) anerkennen und der Klägerin Verletztenrente gewähren muss.
Die im September 1957 geborene Klägerin war von 1972 bis 1981 ohne gesundheitliche Probleme als Packerin und Hilfsarbeiterin bei verschiedenen Unternehmen in I und H beschäftigt. Ab August 1984 bis Januar 1998 arbeitete sie als Hilfskraft für die I W Batterie AG (Arbeitgeberin) in der Nickel-Cadmium-Fertigung im Werk Gerätebatterien. Dort war sie bis 1986 im Batteriebau, anschließend bis 1993 in der Zellenfertigung und danach im Standzeitlager und der Formation tätig. Im Batteriebau schweißte sie an einer kleinen Punktschweißmaschine kurze Verbinder auf geschlossene Nickel-Cadmium-Zellen und verlötete die Zellen mit einem Lötkolben. Außerdem verklebte sie kleine Gerätezellen zu Batterie-Paketen und hatte dabei Kontakt zu Lösemitteln in Klebstoffen. In der Zellenfertigung bearbeitete sie nickel- und cadmiumhaltige Elektroden und atmete dabei Nickel- und Cadmiumstaub ein. Ab 1993 bediente sie im Standzeitlager Zellenprüfautomaten sowie die Zellenwaschmaschine und befüllte die Formationsstände mit Zellen, an denen noch Spuren von Cadmiumstaub hafteten. Bei arbeitsmedizinischen Vorsorgeuntersuchungen zwischen 1991 und 1994 lagen ihre Cadmiumwerte im Urin bei (1 µg/l (unterhalb der Nachweisgrenze) bis 2,5 µg/l (unterhalb des Biologischen Arbeitsstoff-Toleranzwertes [BAT] von 15 µg/l) und im Blut zwischen 2,9 und 4,7 µg/l (im Referenzbereich der Allgemeinbevölkerung). Luftmessungen an verschiedenen Arbeitsplätzen ergaben im Mai 1995 Cadmiumbelastungen unterhalb des maximalen Arbeitsplatzkonzentrationswertes (MAK-Wert) von 0,05 mg/m³.
1995 fand Dr. T2 aus I, Dozentin an der Deutschen Akademie für Akupunktur und Aurikulomedizin, im Rahmen einer Akupunkturbehandlung angeblich Hinweise auf eine schwere Quecksilberbelastung und diagnostizierte später eine milde multiple chemische Unverträglichkeit (Multiple Chemical Sensitive [MCS]). Laborchemisch wurden Anfang 1996 im Harn der Klägerin normale Cadmiumwerte ...