Entscheidungsstichwort (Thema)

Anspruch eines nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländers auf Gewährung von Erziehungsgeld

 

Orientierungssatz

1. Kein Anspruch eines nicht freizügigkeitsberechtigten Ausländers auf die Gewährung von Erziehungsgeld gemäß § 1 Abs 6 BErzGG idF vom 13.12.2006, wenn mit der nach § 25 Abs 5 AufenthG 2004 erteilten Aufenthaltserlaubnis noch nicht die Ausübung einer Erwerbstätigkeit erlaubt war.

2. Die von § 1 Abs 6 Nr 2 BErzGG idF vom 13.12.2006 geforderte Aufenthaltserlaubnis besitzt ein Ausländer erst, wenn tatsächlich in dem Aufenthaltstitel die Ausübung der Erwerbstätigkeit erlaubt wird.

 

Nachgehend

BSG (Urteil vom 30.09.2010; Aktenzeichen B 10 EG 7/09 R)

 

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Aachen vom 12.2.2008 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind auch im zweiten Rechtszug nicht zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die Klägerin ab Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis nach § 25 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) Anspruch auf Erziehungsgeld für das erste Lebensjahr ihres am 00.00.2006 geborenen Sohnes I hat.

Die 1978 geborene Klägerin ist ghanaische Staatsangehörige. Sie ist die ledige Mutter von I und der am 00.00.2004 geborenen T. I ist nach Vaterschaftsanerkennung durch Herrn N, einem Ghanaer mit Niederlassungserlaubnis, seit dem 14.5.2007 deutscher Staatsangehöriger.

Die Klägerin ist am 5.7.2004 unerlaubt über Belgien nach Deutschland eingereist und war zunächst vollziehbar ausreisepflichtig, jedoch war ihre Abschiebung ausgesetzt (Duldung wegen Risikoschwangerschaft). Am 29.5.2007 erhielt sie eine zunächst bis 29.11.2007 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG. Die Aufenthaltserlaubnis war zunächst mit der Nebenbestimmung "Erwerbstätigkeit nur mit Zustimmung der Ausländerbehörde gestattet" versehen; seit dem 26.10.2007 trägt sie den Zusatz "abhängige Beschäftigung jeder Art gestattet". Die Klägerin war und ist nicht erwerbstätig, bezieht keine Leistungen nach dem Dritten Buch Sozialgesetzbuch (SGB III) und nimmt keine Elternzeit in Anspruch; sie lebt von Sozialhilfeleistungen. Der Vater von I ist als Produktionshelfer (40 Wochenstunden) beschäftigt.

Am 13.4.2007 beantragte die Klägerin Erziehungsgeld für das 1. Lebensjahr von I. Trotz seiner vollschichtigen Beschäftigung wurde der Vater des Kindes zum Erziehungsgeldberechtigten bestimmt. Der Beklagte lehnte den Antrag durch Bescheid vom 21.6.2007 (Widerspruchsbescheid vom 19.7.2007) ab, weil die Klägerin nicht die Anspruchsvoraussetzungen nach § 1 Abs. 6 des Bundeserziehungsgeldgesetzes (BErzGG) erfülle.

Mit ihrer zum Sozialgericht Aachen (SG) erhobenen Klage hat die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Sie hat vorgetragen, sie habe Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 AufenthG; ein solcher Aufenthaltstitel berechtige fraglos zum Bezug von Erziehungsgeld. Unabhängig davon bestehe der Erziehungsgeldanspruch nicht erst ab dem Tage des "Besitzes" der Aufenthaltserlaubnis, sondern ab dem Zeitpunkt der Geburt des Kindes. Im Lichte der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 6.7.2004 (1 BvR 2515/95) sei das Tatbestandsmerkmal "im Besitz" in § 1 Abs. 6 BErzGG entgegen der bisher hierzu in Rechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassung nicht länger wörtlich zu begreifen, sondern vielmehr verfassungskonform dahin auszulegen, dass lediglich die materiell-rechtlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltsgenehmigung vorliegen müssten. Das BVerfG habe klar herausgearbeitet, dass es auf den formalen Besitz eines Aufenthaltstitels nicht ankommen könne. Da der Zeitpunkt der Erteilung des Aufenthaltstitels auch von Faktoren abhänge, die der Betroffene nicht beeinflussen könne (z.B. Bearbeitungszeiten der Ausländerbehörde), und Amtshaftungsansprüche oft am erforderlichen Verschulden scheiterten, sei das Gesetz verfassungskonform dahinauszulegen, dass ihr bereits rückwirkend ab Geburt des Kindes ein Anspruch auf Erziehungsgeld zustehe und nicht erst ab dem Zeitpunkt der tatsächlichen Inbesitznahme der Aufenthaltserlaubnis. Die Klägerin hat ferner die Auffassung vertreten, dass die Anknüpfung an den formalen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis auch gegen Art. 14 i.V.m. Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoße. Sie hat sich hierzu auf die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EuGHMR) vom 25.10.2005 (59140/00) bezogen.

Die Klägerin hat beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 21.6.2007 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 19.7.2007 zu verurteilen, ihr für die Zeit vom 15.10.2006 bis 14.10.2007 Erziehungsgeld für das Kind I zu gewähren,

hilfsweise,

das Verfahren auszusetzen und dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorzulegen, ob § 1 Abs. 6 des Bundeserziehungsgeldgesetzes in der Fassung durch Art. 3 Nr. 1 des Gesetz zur Anspruchsberechtigung von Ausländern wegen Kindergeld, Erziehungsgeld und Unterhaltsvorschuss vom 13.12.2006 (BGBI....

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