Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Schockschaden. Tatzeuge als Sekundäropfer. Totschlag des Geliebten der Mutter durch den Vater. unmittelbarer Zusammenhang mit der Schädigungsfolge. zeitliche und örtliche Nähe ausreichend. unmittelbares Miterleben der Gewaltsituation. Mitansehen des tätlichen Angriffs nicht erforderlich

 

Leitsatz (amtlich)

1. Auch Tatzeugen (sog Sekundäropfer) können Versorgungsschutz nach dem OEG für die psychischen Folgen einer Gewalttat genießen.

2. Der Anspruch eines Sekundäropfers auf Versorgung nach dem OEG setzt einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen dem Schädigungstatbestand und der schädigenden Einwirkung im Sinne einer engen, untrennbaren Verbindung beider Elemente voraus. Es müssen die psychischen Auswirkungen der Gewalttat auf eine andere Person beim Sekundäropfer so eng verbunden sein, dass beide eine natürliche Einheit bilden.

Allein eine zeitliche und örtliche Nähe zum primär schädigenden Geschehen kann den erforderlichen engen Zusammenhang begründen, auch wenn es an einer besonderen personalen Nähe zu dem Primäropfer fehlt.

 

Orientierungssatz

Unmittelbarer Tatzeuge ist nicht nur derjenige, der die Tat "gesehen" hat. Zeuge ist jeder, der den aufzuklärenden Sachverhalt durch eigene Wahrnehmung (wie etwa das Hören) bekunden kann (Abgrenzung zu LSG Saarbrücken vom 24.9.2013 - L 5 VE 5/11).

 

Tenor

1. Auf die Berufung des Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 22.05.2014 und der Bescheid des Beklagten vom 30.01.2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheid vom 11.12.2013 insoweit abgeändert, als der Beklagte verurteilt wurde, dem Kläger Versorgung nach einem GdS von 30 über den Monat Oktober 2014 hinaus zu gewähren.

Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

2. Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers im Berufungsverfahren trägt der Beklagte die Hälfte.

3. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Gewährung von Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG).

Der im Jahr 1979 geborene Kläger beantragte im November 2010 die Gewährung von Versorgung nach dem OEG wegen einer Gewalttat vom 27.06.1996. An diesem Tag tötete der Vater des damals 16-jährigen Klägers den Herrn A F (Opfer), der mit der Mutter und dem Vater des Klägers gemeinsam ein Einfamilienhaus bewohnte und mit dem die Mutter des Klägers ein intimes Verhältnis unterhalten hatte. Der Vater des Klägers wollte, nachdem es Streit zwischen seiner Mutter und dem Opfer gegeben hatte, klare Verhältnisse schaffen, das intime Verhältnis seiner Frau mit dem Opfer nicht mehr hinnehmen und begab sich dazu in den ersten Stock des Einfamilienhauses in das Zimmer des Opfers, schlug diesen mit einem Pflasterstein zu Boden und brachte ihm mit einem Brotmesser Stichverletzungen im Bereich der linken Wange und hinter dem linken Ohr bei, wodurch der Geschädigte noch am Tatort an schweren Schädelverletzungen verstarb. Der Vater des Klägers wurde wegen dieser Tat zu einer Freiheitsstrafe von neun Jahren verurteilt (Urteil des Landgerichts Koblenz vom 20.03.1979, Az.: XX).

Der Kläger teilte mit, er sei durch den Lärm am Tatabend wach geworden, habe sich nach oben begeben und dort seinen Vater im Zimmer des Geschädigten stehen gesehen, Messer und Stein noch in den Händen und dadurch einen Schockschaden erlitten. Seitdem leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung, Anpassungsstörung und Drogenmissbrauch aufgrund von fehlender Resozialisierung.

Das Amt für soziale Angelegenheiten zog einen Behandlungsbericht der Psychosomatischen Klinik für Kinder und Jugendliche, Bad N, den Entlassungsbericht über eine stationäre Heilbehandlung in der A -Klinik M vom 09.05.2011, den Abschlussbericht über eine stationäre Heilbehandlung in der R -M -Fachklinik A vom 10. bis 13.08.1998 bei, holte einen Befundbericht der Dipl.-Psych. M ein und ließ den Kläger durch den Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. N begutachten. Dieser untersuchte den Kläger im April 2012 und kam in seinem Gutachten im Wesentlichen zu dem Ergebnis, beim Kläger bestehe eine Zwangsstörung in Form eines leicht bis mittelgradig ausgeprägten Waschzwangs sowie ein leicht ausgeprägter Kontrollzwang. Als typisches Zeichen des Waschzwanges falle eine raue und rissige Haut im Bereich beider Handrücken auf. Der Waschzwang sei nach Angaben des Klägers erstmals ca. ein halbes Jahr nach dem Vorfall aufgetreten, weil er zu dieser Zeit stark gemobbt worden sei. Die Zwangsstörung werde jedoch nicht als typische komorbide Störung einer posttraumatischen Belastungsstörung gesehen. Im Anschluss an das Trauma habe sich eine chronische Schmerzstörung entwickelt, vor allem im Bereich der Halswirbelsäule, teilweise in den Kopf und in die Schulter ausstrahlend. In der Vorgeschichte gebe der Kläger einen Drogenabusus, insbesondere in der Form von Cannabis und Amphetaminen an, der sich ebenfalls im Anschluss an das Trauma entwickelt habe. Seit einem halben Jahr seit der Kläger aber abstinent. Während der Beguta...

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