Entscheidungsstichwort (Thema)
Nachträgliche Berichtigung eines Arbeitgeberversehens bei der Berechnung des Arbeitsentgelts mit Auswirkungen auf Beitragspflicht. Grundsatz der Unveränderlichkeit eines "abgewickelten" Versicherungsverhältnisses
Leitsatz (amtlich)
1. Kommt es aufgrund einer irrtümlich unterbliebenen Anwendung einer steuerrechtlichen Bestimmung zu einer fehlerhaften Berechnung des Arbeitsentgelts für die Vergangenheit, kann dieses Versehen nachträglich auch mit Auswirkungen auf die Beitragspflicht berichtigt werden.
2. Dies ist jedoch nur dann möglich, wenn die maßgebliche steuerrechtliche Bestimmung ihrem inhaltlichen Regelungsgehalt nach unverändert geblieben ist und sie nur versehentlich durch den Arbeitgeber nicht angewandt worden ist.
Orientierungssatz
Nach dem das Sozialversicherungsrecht prägenden Grundsatz der Unveränderlichkeit eines sogenannten "abgewickelten" Versicherungsverhältnisses ist für die Beitragsberechnung und für die Höhe der Geldleistungen aus der Versicherung allein der Zeitpunkt der Beitragsleistung oder der Entstehung des Anspruchs maßgeblich. Dieser Grundsatz steht sowohl rückwirkenden Eingriffen in das Versicherungsverhältnis durch nachträgliche Änderung tatsächlicher Umstände des Arbeitsverhältnisses entgegen als auch rückwirkenden Eingriffen aufgrund einer Änderung der rechtlichen Verhältnisse, ohne dass diesen durch einen ausdrücklichen Befehl des Gesetzgebers auch Auswirkungen für das Sozialversicherungsrecht zugeschrieben werden (vgl BSG vom 30.11.78 - 12 RK 26/78 = BSGE 47, 211 = SozR 2200 § 160 Nr 7 und BSG vom 28.5.1980 - 5 RKn 21/79 = BSGE 50, 129 = SozR 2600 § 121 Nr 2).
Tenor
1. Auf die Berufung der Beklagten werden das Urteil des Sozialgerichts Koblenz vom 27.08.2010 insoweit aufgehoben und die Klage abgewiesen, als die Beklagte zur Erstattung überzahlter Sozialversicherungsbeiträge aus dem Beschäftigungsverhältnis der Beigeladenen zu 1 und 2 in Höhe von 1222,91 € zuzüglich 4 % Zinsen ab dem 26.01.2008 verurteilt worden ist. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt die Beklagte zu ¾ und die Klägerin zu ¼. Außergerichtliche Kosten der Beigeladenen sind nicht zu erstatten.
3. Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).
4. Der Streitwert wird auf 1.222,91 Euro festgesetzt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts und die hieraus resultierenden Gesamtsozialversicherungsbeiträge für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 31.11.2006 für die Beschäftigten H T (Beigeladene zu 1) und T B (Beigeladene zu 2), wie sie von der Beklagten im Rahmen einer Betriebsprüfung festgestellt worden sind.
Im November 2006 führte die Klägerin als Arbeitgeberin der Beigeladenen zu 1) und 2) die Gesamtbeiträge zur Sozialversicherung abzüglich eines Betrages in Höhe von 1.511,63 € ab. Bei dieser Beitragsentrichtung brachte sie rückwirkend für die nebenberuflich als Pflegekräfte bei ihr tätigen Beigeladenen zu 1) und 2) eine steuerfreie Aufwandsentschädigung gemäß § 3 Nr. 26 Einkommenssteuergesetz (EStG) in der vorgenannten Höhe für den Zeitraum vom 01.01.2005 bis zum 30.11.2006 (Beigeladene zu 1) und den Zeitraum vom 01.09.2006 bis zum 30.11.2006 (Beigeladene zu 2) in Ansatz und minderte damit die beitragspflichtigen Arbeitsentgelte in diesem Zeitraum.
Am 19.03.2007 und 14.09.2007 fand bei der Klägerin eine Betriebsprüfung statt. Dabei stellte die Beklagte fest, dass der Steuerfreibetrag gemäß § 3 Nr. 26 Einkommenssteuergesetz (EStG) durch die Klägerin rückwirkend angesetzt wurde, wodurch es zu einer Minderung des beitragspflichtigen Arbeitsentgelts der Beigeladenen zu 1 und 2 für die Kalenderjahre 2005 und 2006 kam.
Mit Bescheid vom 09.11.2007 machte die Beklagte einen Betrag in Höhe von 1.511,63 € geltend, wobei sie für den Monat Dezember 2006 eine Gutschrift von insgesamt 288,72 Euro unter Berücksichtigung des § 3 Nr. 26 EStG für beide Beschäftigte in Ansatz brachte. Ihre Nachforderung begründete sie damit, dass die rückwirkende Ansetzung der steuerfreien Aufwandsentschädigung nicht möglich sei. Die Beitragsforderung sei eine öffentlich-rechtliche Forderung, die hinsichtlich ihres Entstehens und ihrer Fälligkeit den Vorschriften der §§ 22 und 23 des Vierten Buches Sozialgesetzbuch (SGB IV) unterliege. Dabei entstünden die Beitragsansprüche, sobald die gesetzlichen Voraussetzungen vorlägen. Die Beitragsbemessung erfolge dabei auf der Grundlage der beitragspflichtigen Einnahmen. Beitragspflichtiges Arbeitsentgelt sei derjenige Betrag, der in den ursprünglichen Beitragsnachweisen der Beitragsberechnung zugrunde gelegt werde und aus dem Beiträge gezahlt würden. Im Sozialversicherungsrecht könne es aus Gründen der Rechtssicherheit grundsätzlich nicht hingenommen werden, dass nach Auszahlung des Arbeitsentgeltes und dessen Nachweis gegenüber den Einzugsstellen die Bestimmung über die endgültige Höhe des Arbeitsentgeltes und damit die Höh...