Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. Prügelei. Vollbeweis. Beweislast. keine Beweiserleichterung nach § 15 KOVVfG bei verbliebener Beweisfälligkeit nach Zeugenvernehmungen. keine Bindung an Feststellungen des Zivilgerichts oder an Ergebnisse eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens. Versagung der Entschädigung. Provokation eines Autofahrers durch Gefährdung bei Überholmanövern

 

Leitsatz (amtlich)

Für die Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs iSv § 1 Abs 1 S 1 OEG bedarf es des Vollbeweises. Lassen sich die Entstehung und der konkrete Verlauf einer "Prügelei" zwischen zwei Personen trotz Zeugenvernehmungen und der Heranziehung umfangreicher Beiakten aus anderen Verfahren, welche den maßgeblichen Lebenssachverhalt zum Gegenstand haben, nicht aufklären, geht dies zu Lasten des Anspruchstellers. Die Beweiserleichterung des § 15 KOVVfG greift in dieser Konstellation nicht.

 

Orientierungssatz

1. Das Entschädigungsgericht ist nicht an die Feststellungen eines Zivilgerichts (hier: Verurteilung des Täters zu Schadensersatz nach § 823 BGB) oder an die Feststellungen in einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren (hier: Verfahrenseinstellung nach § 153a StPO) gebunden.

2. Zur Versagung des Entschädigungsanspruchs nach § 2 Abs 1 OEG wegen Provokation und Mitverursachung einer Prügelei durch einen Autofahrer, der mehrfach durch gezielte Beschleunigung andere Verkehrsteilnehmer zum Abbruch ihrer Überholvorgänge gezwungen und neben ihm überholende Autofahrer auf diese Weise gefährdet hat.

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 21.08.2017; Aktenzeichen B 9 V 19/17 B)

 

Tenor

Die Berufung wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ein Anspruch auf Leistungen nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten (Opferentschädigungsgesetz - OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) zusteht.

Der Kläger war am 26. November 2001 im Rahmen seiner damaligen selbstständigen Tätigkeit als Inhaber einer Bäckerei auf der Bundesstraße 187 von Sch. in Richtung H. unterwegs, um Backwaren auszuliefern. Beifahrerin war seine damals jugendliche Tochter Ch. H ... Er fuhr mit seinem Pkw zunächst vor einem vom Zeugen L. geführten Transporter. Nach zunächst erfolglosen Überholversuchen gelang es dem Zeugen L., den Kläger vor dem Ortseingang von H. zu überholen. In H. stoppten der Zeuge L. und der Kläger ihre Fahrzeuge und verließen diese. Im unmittelbaren Anschluss kam es zwischen ihnen zu einer körperlichen Auseinandersetzung, welche der in dem zum Vorfall geführten Zivilverfahren vernommene Zeuge K. beendete, indem er beide voneinander trennte.

Der Kläger erhob vor dem Landgericht (LG) Dessau am 3. Januar 2003 Klage und machte gegen den hiesigen Zeugen L. als dortigem Beklagten ein Schmerzensgeld geltend. Zur Begründung trug er vor: Nach mehrfachen (aggressiven) Überholversuchen des Zeugen L. habe er vor dem Ortseingangsschild seinen Pkw auf 50 km/h abgebremst. Daraufhin habe der Zeuge L. ihn überholt, sich mit seinem Transportfahrzeug vor das Fahrzeug des Klägers gesetzt und ihn zum Anhalten genötigt. Der Zeuge L. sei aus dem Transporter ausgestiegen und zum Fahrzeug des Klägers gerannt. Nachdem der Kläger die Tür geöffnet habe, habe der Zeuge den Kläger aus dem Pkw herausgezogen und ihn heftig gegen die Fahrertür geschubst. Der Kläger habe dann versucht, weitere Angriffe gegen den Oberkörper passiv abzuwehren, woraufhin der Zeuge L. ihn mehrfach mit der bloßen Faust auf den oberen Brustbereich geschlagen, heftige Tritte gegen beide Schienbeine versetzt und ihn in das Gesicht geschlagen habe. Schließlich habe der Zeuge dem Kläger einen so schweren Schlag gegen den Kopf versetzt, dass dieser das Bewusstsein verloren habe. Der Kläger habe eine Platzwunde über der linken Augenbraue, oberflächliche Hautabschürfungen am linken Ellenbogen, Prellungen der unteren Lendenwirbelsäule und am Übergang Halswirbelsäule/Brustwirbelsäule erlitten. Eine Röntgenuntersuchung habe eine Schädelbasis- bzw. Karlottenfraktur ergeben. Weiterhin hätten sich eine depressive Psychose und ein Augenzucken eingestellt. Der Kläger habe begonnen zu hinken. Es sei zu Verrenkungen und Entzündungen der Schulter und zu einer Schultersteife gekommen. Weiterhin sei eine wiederkehrende Blockierung in der Hals- und Brustwirbelsäule festzustellen gewesen, ebenso wie symptomatische Stressreaktionen, migräneartige Kopfschmerzen, eine akute Halswirbelsäulenblockierung mit Drehschwindel und eine Quetschung des linken Knies. Unfallbedingte Krankschreibungen und fehlende Konzentrationsfähigkeit bedingten eine dauerhafte Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Klägers insbesondere auch im beruflichen Bereich. Im Übrigen habe der Kläger wegen der Halswirbelverletzung zeitweise in Lebensgefahr geschwebt.

Der Zeuge L. trug in seiner Klageerwiderung vor, der Kläger habe durch se...

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