Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Voraussetzung der Annahme einer verminderten Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr und der Zuerkennung einer Rundfunkgebührenbefreiung bei einer Harninkontinenz
Orientierungssatz
1. Allein aus einer Harninkontinenz folgt keine Einschränkung der Bewegungsfähigkeit, die eine Zuerkennung des Merkzeichens “G„ für eine Beschränkung der Gehfähigkeit rechtfertigt.
2. Ein Ausschluss von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen, der die Zuerkennung des Merkzeichens “RF„ und damit eine Befreiung von der Rundfunkgebühr rechtfertigt, setzt voraus, dass für den Betroffenen praktisch eine Bindung an das Haus besteht und eine Teilnahme an Veranstaltungen dadurch faktisch ausgeschlossen ist. Dies ist bei einer Harninkontinenz, die den Betroffenen veranlasst, alle zwanzig bis dreißig Minuten eine Toilette aufzusuchen, nicht der Fall.
Nachgehend
Tenor
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Umstritten sind die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Zuerkennung der Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "RF" (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht).
Die am ... 1950 geborene Klägerin stellte erstmals im Juli 1992 beim Versorgungsamt M. einen Antrag nach dem damaligen Schwerbehindertengesetz unter Hinweis auf eine Erkrankung der Wirbelsäule (Scheuermann’sche Erkrankung), eine Trichterbrustoperation im Jahre 1978, einen niedrigen Blutdruck sowie eine Allergie gegen Tabletten und Tierhaare. Mit Bescheid vom 24. August 1993 und Abhilfebescheid vom 15. Oktober 1993 stellte das Versorgungsamt einen Grad der Behinderung (GdB) von 40 sowie folgende Behinderungen fest:
Verbiegungen und Funktionsstörungen der Wirbelsäule nach Scheuermannscher Krankheit
Zustand nach Brustoperation mit Einschränkung der Herz-Lungenfunktion
Allergie.
Im April 1996 stellte die Klägerin einen Neufeststellungsantrag wegen einer Polyneuropathie als hinzu getretener Erkrankung und beantragte zusätzlich die Zuerkennung des Merkzeichens "G". Nach den vom Versorgungsamt daraufhin durchgeführten Ermittlungen war die Klägerin noch in der Lage, Gehstrecken ohne Hilfsmittel zurückzulegen. Im Kreiskrankenhaus B. war während eines stationären Aufenthaltes vom 18. bis 30. Januar 1996 die Diagnose einer Polyneuropathie unklarer Genese gestellt worden, die neurologische Untersuchung hatte einen unauffälligen Zehen- und Hackenstand sowie eine beginnende Atrophie (Verschmächtigung) der unteren Extremitäten beidseits ergeben (Epikrise des Krankenhauses vom 24. April 1996). Nach Auswertung dieser Unterlagen durch den Versorgungsärztlichen Dienst stellte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 4. September 1996 als zusätzliche Behinderung eine "Nervenschädigung der Beine" und einen unveränderten GdB von 40 fest. Im weiteren Neufeststellungsantrag vom 29. Oktober 1998 begehrte die Klägerin abermals das Merkzeichen "G" und benannte als zusätzliche Behinderungen eine "neurale Muskelatrophie HMSN I" sowie eine "Urge-Inkontinenz mit erheblich eingeschränkter Blasenkapazität und stark verzögertem Flow". Das Versorgungsamt holte daraufhin Befundberichte von der Frauenärztin Dr. B. vom 24. November 1998 und von Privatdozent (PD) Dr. W. vom 28. Januar 1999 ein. Frau Dr. B. berichtete über eine extreme Blasenschwäche mit täglich bis zu 40-maligem Wasserlassen und erheblichen sozialen Konsequenzen. Die Klägerin könne kaum öffentliche Verkehrsmittel benutzen oder an kulturellen Veranstaltungen teilnehmen. Therapieversuche seien wegen der Medikamentenunverträglichkeit erfolglos verlaufen. Nach dem Bericht von PD Dr. W. betrug die maximale Wegstrecke nach den Angaben der Klägerin noch zwei bis drei km mit beginnender Atrophie der Muskulatur der unteren Extremitäten bei leicht ataktischem Gangbild. Als Diagnosen benannte er eine neurale Muskelatrophie vom Typ HMSN I (Charcot-Marie-Tooth) und einen leichten frühkindlichen Hirnschaden. Er empfehle die Anerkennung des Merkzeichens "G"; an öffentlichen Veranstaltungen könne die Klägerin teilnehmen. In Auswertung dieser Unterlagen plädierte der Ärztliche Dienst des Versorgungsamtes mit Stellungnahme vom 19. März 1999 (Dr. R.) für einen Gesamt-GdB von 60 und die Anerkennung einer erheblichen Gehbehinderung, die durch die von der Klägerin gegenüber Dr. W. angegebenen "unerträglichen Krämpfe" der Beine, das leicht ataktische Gangbild sowie die ausgeprägte neurogene Schädigung der Muskulatur mit motorischer und sensorischer Leistungsverzögerung bei neuraler Muskeldystrophie zusammen mit dem Wirbelsäulenschaden bedingt sei. Dieser Bewertung widersprach der Versorgungsarzt Dr. F. am 20. Mai 1999 unter Hinweis auf die geringe Beteiligung der Wirbelsäule an der Gehbehinderung und schlug seinerseits einen Gesamt-GdB von 50 ohne das Merkzeichen "G" vor. Dem folgend setzte das Versorgungsamt mit Bescheid vom 27. Mai 1999 den Gr...