Katharina Haslach, Birgit Zimmermann
Rz. 72
Auch der im Ausland erkrankte Arbeitnehmer wird i. d. R. seine Arbeitsunfähigkeit durch eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung nachweisen. Es ist ihm aber unbenommen, durch andere Beweismittel die Tatsachen zu beweisen, die belegen, dass krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vorlag. Das Fehlen einer förmlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat nicht zur Folge, dass dem Arbeitnehmer allein deshalb kein Anspruch nach § 3 Abs. 1 EFZG zusteht. Etwas anderes folgt auch nicht aus § 7 Abs. 1 Nr. 1 EFZG.
Legt der Arbeitnehmer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen aus dem Ausland vor, war der Beweiswert derartiger Bescheinigungen lange Zeit umstritten. Letztendlich ist nunmehr danach zu unterscheiden, ob die Bescheinigung aus einem Land der Europäischen Union oder einem sonstigen Staat stammt.
Rz. 73
Außerhalb der Europäischen Union ausgestellten Bescheinigungen kommt im Allgemeinen der gleiche Beweiswert zu wie einer im Inland ausgestellten Bescheinigung. Die Bescheinigung muss jedoch erkennen lassen, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden und damit eine den Begriffen des deutschen Arbeits- und Sozialversicherungsrechts entsprechende Beurteilung vorgenommen hat. Der Arbeitgeber kann deshalb die Richtigkeitsvermutung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern, dass er Umstände darlegt, die dafür sprechen, dass dem Arzt die für das deutsche Entgeltfortzahlungsrecht wesentliche Unterscheidung zwischen Krankheit und Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Entgeltfortzahlungsanspruchs nicht hinreichend bekannt war bzw. er eine entsprechende Unterscheidung nicht vorgenommen hat.
Rz. 74
Anders verhält es sich bei einer innerhalb der Europäischen Union ausgestellten Bescheinigung:
In seinem als "Paletta I" bekannt gewordenen Urteil stellte der Europäische Gerichtshof (EuGH) fest, dass der Arbeitgeber in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht an die ärztlichen Feststellungen über den Eintritt und die Dauer der Arbeitsunfähigkeit in einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung gebunden sei, sofern er die betroffene Person nicht gem. Art. 18 Abs. 5 Verordnung (EWG) Nr. 574/72 durch einen Arzt seiner Wahl untersuchen lässt. Die Entscheidung stieß weitgehend auf Kritik, da es dem Arbeitgeber damit praktisch unmöglich gemacht wurde, die Richtigkeitsvermutung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Die Möglichkeit, den Arbeitnehmer durch einen Arzt nach Wahl des Arbeitgebers vor Ort untersuchen zu lassen, scheint eher theoretischer Natur.
Rz. 75
Das BAG hat in der Folge in demselben Rechtsstreit erneut den EuGH angerufen und ihm unter anderem die Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt, ob es dem Arbeitgeber verwehrt sei, einen Missbrauchstatbestand zu beweisen, aus dem mit Sicherheit oder hinreichender Wahrscheinlichkeit zu schließen sei, dass Arbeitsunfähigkeit nicht vorgelegen hat. Der EuGH distanzierte sich in der hierauf ergangenen Entscheidung von der Rechtsprechung des BAG, wonach der Arbeitgeber den Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung "nur" erschüttern muss. Zur Begründung führt er aus, dass es nicht mit den Zielen des Artikels 18 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 vereinbar sei, in diesem Fall vom Arbeitnehmer zusätzlichen Beweis für die durch ärztliche Bescheinigung belegte Arbeitsunfähigkeit zu verlangen. Dies hätte nämlich für den Arbeitnehmer, der in einem anderen als dem zuständigen Mitgliedstaat arbeitsunfähig geworden ist, Beweisschwierigkeiten zur Folge, die die Gemeinschaftsregelung gerade vermeiden soll. Andererseits stellte der EuGH klar, dass es die Auslegung von Artikel 18 Abs. 1 bis 5 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 dem Arbeitgeber nicht verwehre, Nachweise zu erbringen, anhand deren das nationale Gericht gegebenenfalls feststellen könne, dass der Arbeitnehmer missbräuchlich oder betrügerisch eine gem. Artikel 18 festgestellte Arbeitsunfähigkeit gemeldet habe, ohne krank gewesen zu sein. Die missbräuchliche oder betrügerische Geltendmachung von Gemeinschaftsrecht sei nämlich nicht gestattet. Der Arbeitgeber hat deshalb nicht nur die in der Paletta I-Entscheidung hervorgehobene Möglichkeit, einen Arbeitnehmer vor Ort durch einen Arzt nach Wahl des Arbeitgebers untersuchen zu lassen, sondern er kann auch auf andere Weise nachweisen, dass ein Arbeitnehmer rechtsmissbräuchlich oder betrügerisch gehandelt hat.
Rz. 76
Das BAG hat die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aufgenommen und in der Folgezeit festgestellt, dass der Arbeitnehmer dann keinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall nach dem Lohnfortzahlungsgesetz i. V. m. Art. 22 der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 und Art. 18, 24 der Verordnung (EWG) Nr. 574/72 habe, wenn er in Wirklichkeit nicht arbeitsunfähig krank und sein Verhalten missbräuchlich oder betrügerisch sei. Allerdings sei dies in aller Regel der Fall, wenn er sich arbeitsunfähig krankschreiben lasse, obwohl er es nicht sei. Die Beweislast...