Entscheidungsstichwort (Thema)
Schwerbehindertenrecht: Bestimmung des Grades der Behinderung. Voraussetzung für den Erlass eines Gerichtsbescheides im sozialgerichtlichen Verfahren um die Feststellung eines Grades der Behinderung. Umfang der Pflicht zur Amtsermittlung
Orientierungssatz
1. Bei der Bildung des Gesamt-GdB ist ein als höchster Einzel-GdB festgestellter Wert von 30 bei Vorliegen von weiteren, mit einem Einzel-GdB von 20 bewerteten Gesundheitsbeeinträchtigungen im Regelfall nur dann weiter zu erhöhen, wenn die jeweils mit einem GdB von 20 eingeordneten Funktionseinschränkungen in ihrer Wechselwirkung das Beschwerdebild und damit die Teilhabebeeinträchtigung des Betroffenen verstärken.
2. Ein Gerichtsbescheid kommt im sozialgerichtlichen Verfahren über die Feststellung eines Grades der Behinderung nur ausnahmsweise dann in Betracht, wenn der Sachverhalt auch in medizinischer Hinsicht geklärt ist. Dabei ist ein Sachverhalt erst dann als geklärt anzusehen, wenn Zweifel hinsichtlich des Sachverhalts ausgeschlossen sind.
3. Lagen im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung keine in jeder Hinsicht aktuellen medizinischen Unterlagen vor, die eine Beurteilung des gesamten Ausmaßes der gesundheitlichen Beeinträchtigungen erlauben, so hat das Gericht den Sachverhalt weiter aufzuklären, insbesondere auch durch Einholung entsprechender Sachverständigengutachten.
4. Einzelfall zur Feststellung des Grades der Behinderung für Gesundheitsbeeinträchtigungen und der Bildung eines Gesamt-GdB (hier: Gesamt-GdB von 30) und zur Zuerkennung eines Merkzeichens “G„ bei einem Gesamt-GdB von 30 (hier: Zuerkennung abgelehnt).
5. Einzelfall zur Beurteilung des Vorliegens eines Verstoßes gegen die richterliche Amtsermittlungspflicht im sozialgerichtlichen Verfahren (hier: Verstoß bejaht).
Tenor
I. Auf die Berufung des Klägers wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 7. Juli 2014 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an das Sozialgericht Chemnitz zurückverwiesen.
II. Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB) von 50 auf 30 und gegen die Entziehung des Merkzeichens G.
Bei dem am ... 1949 geborenen Kläger stellte das Amt für Familie und Soziales Chemnitz mit Bescheid vom 5. Dezember 2003 einen GdB von 50 und das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen G fest. Berücksichtigt wurden folgende Funktionseinschränkungen: Gelenkersatz der Hüfte links, Funktionsstörung des Kniegelenkes rechts, Restbeschwerden nach Weichteilverletzung und Achillessehnenruptur rechts, Funktionsstörung durch Fußfehlform beiderseits.
Am 5. Oktober 2010 stellte der Kläger bei dem Beklagten einen Antrag auf Erhöhung des GdB und Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen B. Verschlimmert habe sich die Funktionsstörung des rechten Kniegelenks. Es bestehe ein Zustand nach Implantation einer Knie-TEP rechts im August 2010 mit eingeschränkter Beweglichkeit, Knien und Hocken seien nicht möglich.
Ein Befundbericht wurde eingeholt von dem Facharzt für Allgemeinmedizin L. (M.), der unter dem 1. März 2011 von einer im September 2011 durchgeführten Knie-TEP rechts bei Gonarthrose und einem postoperativen Befund vom 22. November 2010 mit einer Beweglichkeit von 0/5/95 Grad berichtete. Es liege kein Kniegelenkerguss vor. Ferner bestehe eine Adipositas bei 116 kg bei 170 cm Größe. Ein Stock sei nicht erforderlich.
Beigezogen wurde noch der Entlassungsbericht der Klinik B. vom 13. Oktober 2010; Diagnosen: Gonarthrose re. mit Impl. einer zementierten bikondylären Schlittenknietotalendoprothese am 24. August 2010 op. versorgt, Zust. n. Hüft-TEP li. (2003), Heberschwäche re. Fuß bei Z. n. Unfall, Arterielle Hypertonie, Herzinsuffizienz, Hyperurikämie, Adipositas. Im Abschlussbefund wurde angegeben: reizlose Op-Narbenverhältnisse im Bereich des rechten Kniegelenkes, Extension/Flexion 0/5/95 Grad, leichte Kapselschwellung, kein Gelenkerguss, keine lokale Überwärmung.
Für den Ärztlichen Dienst nahm Dr. J. am 17. April 2011 und 8. Juni 2011 Stellung. Den Gesamt-GdB schätzte er mit 30 ein (Gelenkersatz der Hüfte links - Einzel-GdB 10 wegen einer Gesetzesänderung, Funktionsstörung des Kniegelenkes rechts - Einzel-GdB 0, Restbeschwerden nach Weichteilverletzung/Achillessehnenruptur rechts/Funktionsstörung durch Fußfehlform beidseitig - Einzel-GdB 20, Gelenkersatz des Knies rechts - Einzel-GdB 20 wegen Gesetzesänderung). Die Knie-TEP habe nicht zu einer Verschlechterung geführt. Es fänden sich adäquate Verhältnisse seitens der TEP-Gelenke. Wegen der Gesetzesänderung sei eine Neufeststellung erforderlich.
Mit Schreiben vom 2. August 2011 hörte der Beklagte den Kläger zu einer Herabsetzung des GdB von 50 auf 30 und den Wegfall der Voraussetzungen für das Merkzeichen G an. Durch eine Gesetzesänderung sei der Einzel-GdB für eine Knie-TEP nur noch mit 20 festzustellen und für eine Hüft-TEP mit 10, so d...