Entscheidungsstichwort (Thema)
Behindertenrecht. GdB-Feststellung. Versorgungsmedizinische Grundsätze. nicht erfasste Erkrankung. Analogie
Leitsatz (amtlich)
Sind Erkrankungen in Teil B der AnlVersMedV nicht erfasst, ist die Bildung von Analogien durch den medizinischen Sachverständigen grundsätzlich zulässig.
Dies unterliegen jedoch der gerichtlichen Überprüfung.
Orientierungssatz
Zur GdB-Bewertung eines Morbus Ollier (seltene Skeletterkrankung) in Analogie zu Teil B Nr 18.6 VMG (Versorgungsmedizinische Grundsätze in der Anlage zu § 2 VersMedV).
Nachgehend
Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Chemnitz vom 17. Januar 2019 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind auch für das Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des bei der Klägerin festzustellenden Grades der Behinderung (GdB) und über das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G.
Die 2006 geborene Klägerin leidet an einer Enchondromatose (= Morbus Ollier). Dabei handelt es sich um eine seltene Erkrankung des Skeletts, die durch das Auftreten multipler, gutartiger Tumore (Enchondrome) in den Röhrenknochen gekennzeichnet ist. Das Wachstum der Tumore korreliert mit den Wachstumsphasen des kindlichen Skeletts und sistiert zumeist mit dem Abschluss des Längenwachstums. Klinisch äußern sie sich in einer Behinderung des Wachstums mit Deformierung und pathologischen Frakturen der betroffenen Knochen. Bei der Klägerin wurden bereits Enchondrome an den Fingern beider Hände abgetragen. Aufgrund fehlendem Knochenwachstum wurde 2013 der linke Oberschenkel operativ versorgt. Wegen zunehmender Deformierung erfolgte im Februar 2017 nochmals die Ausräumung eines Enchondroms und die Korrektur der deformierten Knochen des linken Beines. Es wurde ein Fixateur extern angebracht, um ein Längenwachstum des Knochens zu erreichen. Im Mai 2017 war der Knochen vollständig durchbaut und der Fixateur konnte entfernt werden. Die Klägerin bewegte sich zeitweise an zwei UA-Stützen und mittels Rollstuhl fort. Sie erhielt von Februar 2017 an Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung nach dem Pflegegrad 2 für zunächst sechs Monate. Die Nachbegutachtung im Dezember 2017 ließen die Eltern nicht durchführen, da sich nach dem Anschreiben des Vaters der Klägerin an die Pflegekasse vom 28. Februar 2017 "der Gesundheitszustand von zwischenzeitlich derart verbessert hat, dass eine Aufrechterhaltung des Pflegegrades nicht zu erwarten ist".
Die Klägerin beantragte am 24. Januar 2017 bei dem Beklagten die Feststellung von Funktionseinschränkungen, eines GdB und die Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für Merkzeichen.
Nach Beiziehung medizinischer Unterlagen und der anschließenden sozialmedizinischen Auswertung lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin mit Bescheid vom 6. März 2017 ab, da weder Behinderungen im Sinne des SGB IX noch die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen G und der übrigen Merkzeichen vorlägen.
In ihrem Widerspruch führte die Klägerin aus, dass der Beklagte zum Krankheitsbild nicht genügend recherchiert habe und deshalb die von der Klägerin mitgeteilten Funktionseinschränkungen nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Daraufhin holte der Beklagte weitere medizinische Unterlagen ein und half dem Widerspruch teilweise ab (Teilabhilfebescheid vom 10. Januar 2018), in dem er nunmehr einen GdB von 20 zugrunde legte und als Funktionseinschränkungen eine Knochenerkrankung mit Funktionseinschränkung des Beines links feststellte.
Im Übrigen wies der Kommunale Sozialverband Sachsen (KSV) den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 5. Februar 2018 zurück. Bei der Klägerin liege eine Systemerkrankung am Skelett und Knorpel vor. Im Oktober 2017 sei noch ein hinkender Gang und eine potentielle Frakturgefährdung attestiert worden. Weitere gutartige Tumore seien im körpernahen Anteil des Oberschenkels links noch vorhanden. Die derzeitige Beurteilung basiere auf einem zu erwartenden Dauerschaden bei günstigem Heilungsverlauf analog zu einer prothesengerechten Situation bei einem Kunstgelenk des Knies. Zukünftige negative Entwicklungen könnten nicht als Beurteilungsgrundlage herangezogen werden, weshalb der GdB von 20 korrekt sei. Die Feststellung von Merkzeichen komme nicht in Betracht.
Hiergegen hat sich die am 5. März 2018 vor dem Sozialgericht Chemnitz erhobene Klage gerichtet, mit der sie ihr Begehren eines höheren GdB und der Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Merkzeichen G, B und H weiterverfolgt hat. Die Erkrankung äußere sich in einer Behinderung des Wachstums mit Deformierungen sowie pathologischen Frakturen der betroffenen Knochen. Neben diesen Frakturen und Fehlstellungen drohe eine maligne Entartung der knöchernen Läsionen. Die Knochentextur sei bei der Klägerin aufgrund der Erkrankung verändert, was ...