Entscheidungsstichwort (Thema)

Schwerbehindertenrecht. sächsisches Landesblindengeld. Blindheit. hochgradige Hirnleistungsstörung. Zweckverfehlungseinwand. schwerste geistige und motorische Behinderung. Möglichkeit der Förderung einer selbstständigen Interaktion mit der Umwelt

 

Leitsatz (amtlich)

Dem Anspruch auf Blindengeld kann der Einwand der Zweckverfehlung nicht nur bei dauernder Bewusstlosigkeit und Koma entgegengehalten werden. Auch schwere Mehrfachschädigungen können einen Ausgleich des fehlenden Sehvermögens mithilfe von Blindengeld im Sinne einer wesentlichen Verbesserung von Lebenssituationen und Teilhabemöglichkeiten ausschließen.

 

Orientierungssatz

1. Der Zweckverfehlungseinwand kann auch dann durchgreifen, wenn ein (geringes) Restkommunikationsvermögen besteht (hier: eingeschränkte basale Interaktionsmöglichkeiten, wie etwa Strampeln, Lautäußerungen, wie Quieken, Jammern und Weinen, die als Reaktion auf vestibuläre oder taktile Reize, wie Schaukeln, Streicheln, Festhalten erfolgen und als Zustimmung oder Missbilligung gedeutet werden können).

2. Entscheidend ist insoweit, ob der schwerstbehinderte Mensch in der Lage ist, sich wie andere blinde Menschen durch Taktil- oder Hörreize zusätzliche Information über die Welt zu verschaffen, die ihm erlauben würden, sich mit personellem und zeitlichem Mehraufwand oder blindenspezifischen Hilfsmitteln besser in der Welt zurechtzufinden, lebenspraktische Fähigkeiten zu erwerben, selbstständig Kontakte mit der Umwelt zu pflegen und am kulturellen und öffentlichen Leben teilzunehmen.

3. Aufwendungen für allgemeine pflegerische Betreuung stellen keine blindheitsbedingten Mehraufwendungen dar (vgl LSG München vom 12.11.2019 - L 15 BL 1/12, vom 26.11.2019 L 15 BL 2/19 und vom 11.2.2020 - L 15 BL 9/14).

 

Nachgehend

BSG (Beschluss vom 31.01.2022; Aktenzeichen B 9 BL 3/21 B)

 

Tenor

I. Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Leipzig vom 26. Juni 2020 aufgehoben und die Klage abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind in beiden Rechtszügen nicht zu

erstatten.

III. Die Revision wird nicht zugelassen.

 

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Blindengeld nach dem sächsischen Landesblindengeldgesetz (LBlindG) streitig.

Die 2006 geborene Klägerin ist von Geburt an schwerst mehrfachbehindert. Es liegt eine Reduktionsdeformität des Gehirns vor, Hirnanlagestörung in der Schwangerschaft, daraus folgte eine Mikrozephalie, Minderwuchs, schwere fokale symptomatische Epilepsie mit komplex-fokalen Anfällen, Dystrophie, schwere Hirnleistungsstörung.

Mit Bescheid vom 13.09.2006 hat das Versorgungsamt S. einen GdB von 100 und die Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "B" und "H" festgestellt. Berücksichtigt wurden folgende Beeinträchtigungen: Hirn- und Gliedmaßenfehlbildung, Anfallsleiden. Mit Bescheid vom 11.01.2008 hat das Amt für Familie und Soziales den Bescheid vom 13.09.2006 mit Wirkung ab 18.07.2007 aufgehoben und wie bisher einen GdB von 100 sowie das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "B" und "H" sowie neu das Vorliegen der Voraussetzungen für das Merkzeichen "aG" festgestellt. Das Vorliegen der Voraussetzungen für die Merkzeichen "Bl" und "RF" wurde jedoch verneint. Berücksichtigt wurden komplexe Entwicklungsverzögerungen bei Hirn- und Gliedmaßenfehlbildung, Sehminderung, Anfallsleiden. Mit Bescheid vom 14.01.2008 wurde ab 18.07.2007 ein Nachteilsausgleich für schwerstbehinderte Kinder nach dem LBlindG gewährt, der Nachteilsausgleich für hochgradig Sehschwache abgelehnt. Eine Sehbehinderung im Umfang der gesetzlichen Bestimmungen des § 1 Abs. 3 LBlindG läge nicht vor. Das anschließende Widerspruchs-, Klage- und Berufungsverfahren blieb ohne Erfolg. Mit Urteil vom 09.12.2013 hat das Sächsische Landessozialgericht nach Einholung eines augenfachärztlichen Gutachtens von Prof. Dr. Z. vom 27.10.2011 sowie eines neuropädriatrischen Fachgutachtens von Prof. Dr. Y. vom 31.05.2013 festgestellt, eine spezifische Störung des Sehvermögens, die geeignet sei, Blindheit im gesetzlichen Sinne hervorzurufen, lasse sich bei der Klägerin nicht feststellen. Es bestehe die Wahrscheinlichkeit einer zentralen Verarbeitungsstörung des Seheindrucks aufgrund der schweren Hirnschädigung sowie der notwendigen Gabe stark dämpfender Antiepileptika . Nach dem Gutachten von Prof. Dr. Y. löse die visuelle Wahrnehmung im Vergleich zu anderen Wahrnehmungsmodalitäten geringere Reaktionen aus. Diese anderen Modalitäten seien vestibulärer, taktiler und akustischer Art. Im Rahmen der schweren Hirnfunktionsstörung seien die Reaktionen auf Reize in diesen Sinneskanälen für die Umgebung deutlich erkennbar, ihr Ausmaß sei jedoch auch im Rahmen der schweren Hirnfehlbildung stark limitiert.

Den - hier streitgegenständlichen - Antrag vom 12.05.2016, eingegangen am 03.06.2016, auf Gewährung von Leistungen nach dem LBlindG wegen Blindheit/hochgradiger Sehschwäche lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 23.11.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2017 ab...

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