Entscheidungsstichwort (Thema)

Begriff des Ghettos iS des ZRBG. keine Konzentration jüdischer Menschen in einem bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk aufgrund der geringen Anzahl jüdischer Personen sowie der Überschaubarkeit der örtlichen Verhältnisse in kleinen Landgemeinden

 

Orientierungssatz

1. Zum Begriff des Ghettos iS des ZRBG.

2. Von einem Aufenthalt in einem Ghetto iS des ZRBG kann auch ausgegangen werden, wenn in kleinen Landgemeinden eine Konzentration jüdischer Menschen in einem bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk aufgrund der geringen Anzahl jüdischer Personen sowie der Überschaubarkeit der örtlichen Verhältnisse nicht stattgefunden hat und die jüdischen Menschen bei eingeschränkter Bewegungsfreiheit in ihren angestammten Häusern verblieben oder ihnen andere einzelne Häuser zugewiesen wurden, in denen sie leben mussten und die sie nur in Ausnahmefällen verlassen durften.

 

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin werden der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 8. September 2016 und der Bescheid vom 8. Mai 2012 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 28. Februar 2013 aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, die Zeit von Februar 1940 bis Februar 1942 als rentenrechtliche Zeit des am xx.xx.1912 geborenen und am xx.xx.2017 verstorbenen J. K. anzuerkennen.

Die Beklagte hat der Klägerin die ihr zur Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten beider Rechtszüge zu erstatten.

Die Revision wird zugelassen.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über einen Anspruch der Klägerin auf eine Witwenrente. Dabei geht es wesentlich um die Voraussetzung einer Beschäftigung in einem Ghetto, insbesondere darum, ob der verstorbene Ehemann der Klägerin (Versicherter) in einem Ghetto gelebt hat.

Die 1921 geborene Klägerin ist die Witwe des 1912 in P./Ka. geborenen und 2007 in den USA verstorbenen J. K. Dieser war jüdischen Glaubens und Verfolgter im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Nach der Befreiung lebte er 1945/1946 in Salzburg, 1946 wanderte er in die USA aus, deren Staatsbürgerschaft er annahm.

Der Versicherte beantragte am 23. August 2002 bei der Landesversicherungsanstalt Freie und Hansestadt Hamburg als Rechtsvorgängerin der Beklagten eine Altersrente und führte hierzu aus, er habe bis 1933 die Elementarschule und das Gymnasium besucht und von 1940 bis 1942 in P. im Straßenbau gearbeitet („road work“). Die Beklagte zog die über den Versicherten geführte Akte des Amtes für Wiedergutmachung in Saarburg bei. In dem Antrag auf Entschädigung hatte der Kläger angegeben, er sei von März 1942 bis Oktober 1943 im Zwangsarbeitslager (ZAL) Kb., von Oktober 1943 bis Dezember 1944 im ZAL M. und von Dezember 1944 bis 9. Mai 1945 im Konzentrationslager (KZ) G./P. inhaftiert gewesen. In einer eidesstattlichen Versicherung vom 6. Mai 1955 hatte er angegeben, er sei nach dem Besuch der Volksschule (7 Jahre) in das Getreide- und Lebensmittelgeschäft seines Vaters eingetreten. P. sei 1939 von den Deutschen besetzt worden. Die Juden hätten den Davidstern und die Armbinde tragen müssen. Er habe ab Februar 1940 in einer Zwangskolonne arbeiten müssen und sei täglich unter deutscher Bewachung 16 km zum Arbeitseinsatz im Straßenbau hin- und zurückgegangen. Er habe unter ständiger Bewachung gearbeitet. Nach der Rückkehr am Abend habe die jüdische Bevölkerung nicht mehr auf die Straße gehen dürfen. Gearbeitet habe er bis März 1942. Danach seien alle neun jüdischen Familien des Ortes nach B. und anschließend in das ZAL Ba. gekommen. Er habe dort wie auch alle anderen arbeitsfähigen Männer und Frauen unter polnischer Bewachung bei der Firma F. gearbeitet und Holzarbeiten verrichtet. In einer eidesstattlichen Versicherung vom 25. Juni 1957 hatte der Versicherte erklärt, er sei vor dem Krieg Teilhaber und Geschäftsleiter des Kolonialwarengeschäfts seines Vaters gewesen. Das Geschäft habe sich im eigenen Haus befunden. Sie hätten mit allem gehandelt, was die Bauern der Umgebung gebraucht hätten. Sie hätten auch eigene Felder mit einer Fläche von 10 Joch bebaut. Er habe in der Umgebung Getreide aufgekauft, habe es mahlen lassen und weiterverkauft. In einem ärztlichen Gutachten vom 10. Mai 1962 ist ausgeführt, der Versicherte habe von 1930 bis 1940 im Geschäft der Eltern mitgearbeitet, von 1940 bis 1942 Zwangsarbeit verrichtet und sei von 1942 bis 1945 in einem KZ interniert gewesen.

In eidesstattlichen Versicherungen vom 17. Mai 1955 hatten die Zeugen Ja. M. und Z. Jb. Kc. eidesstattlich ausgesagt, sie hätten den Versicherten seit 1942 gekannt. Sie seien alle im ZAL Ba. interniert gewesen. Von dort seien sie nach Kb. verbracht worden und hätten Holzarbeiten verrichtet. Im September 1943 seien sie in das KZ M. verbracht worden, von dort im Juli/August 1944 in die KZs W., Ka.-Pa. und G., anschließend nach B., wo sie in einer Munitionsfabrik gearbeitet hätten. Dort seien sie am 8. Mai 1945 von den russischen Truppen befreit worden.

Mit Bescheid vom 10. Dezember 2002 lehnte die Landesversicherungsanstalt Freie und Han...

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