Entscheidungsstichwort (Thema)

Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. geschlechtsanpassende Genitaloperation bei einem intersexuellen Menschen vor 20 Jahren. kein tätlicher Angriff. damalige gesellschaftliche Wertvorstellungen. Rollenkonflikt des intersexuellen Menschen. keine egoistische Schädigungsabsicht des Arztes

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Annahme einer egoistischen Motivlage eines Intersexualität behandelnden Operateurs negiert den Rollenkonflikt, in dem sich Intersexuelle vor ca 20 Jahren befunden haben.

2. Bei Würdigung eines tätlichen Angriffs unter dem Gesichtspunkt der feindseligen Willensrichtung können gesellschaftliche Wertvorstellungen hinsichtlich rollenanpassender Genitaloperationen von Intersexuellen nicht ausgeklammert werden.

 

Tenor

I. Die Klage gegen den Bescheid vom 26. Juli 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. März 2011 wird abgewiesen.

II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Feststellung, Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs im Sinne des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) geworden zu sein.

Bei der 1974 geborenen Klägerin wurde am 06.07.1995 im Klinikum der Universität E. eine Operation im Genitalbereich durchgeführt.

Am 16.10.2008 stellte die Klägerin im Rahmen eines Widerspruchsverfahrens nach dem Schwerbehindertenrecht einen Antrag auf Opferentschädigung. Nach dem Ruhen des Verfahrens wurde der Antrag mit Bescheid vom 26.07.2007 abgelehnt. Der Widerspruch wurde am 31.01.2011 begründet. Mit Widerspruchsbescheid vom 21.03.2011 wurde der Widerspruch zurückgewiesen. Es bestünden keine Anhaltspunkte, dass die behandelnden Ärzte aus objektiver Betrachtung nicht zu ihrem Wohle, sondern im Wesentlichen aus eigenen finanziellen Interessen gehandelt hätten.

Mit diesem Ergebnis des Verwaltungsverfahrens zeigt sich die Klägerin nicht einverstanden und erhebt am 14.04.2011 Klage zum Sozialgericht Bayreuth. Bei der Klägerin liege kein einzelner Eingriff, sondern ein längerfristiger Behandlungszeitraum vor, der insgesamt betrachtet werden müsse. Die Klägerin sei geno- und gonadentypisch männlich und habe ein entwickeltes männliches Genital gehabt. Dennoch sei die Klägerin weiblich sozialisiert. Erst durch eine genetische Diagnostik durch die Gynäkologin am 06.08.1994 habe sich ergeben, dass die Klägerin ein XY-Chromosom habe. Dennoch sei ihr bei einer Vorstellung in der Uniklinik E. am 12.08.1994 mitgeteilt worden, dass sie rein weiblichen Geschlechts sei. Als Diagnose sei ein Adreno-Genitalen-Syndrom, weiblicher Genotyp, erstattet worden. Nach einer Laparoskopie hätten die Gonaden nicht sicher identifiziert werden können, ein Uterus sei nicht vorhanden. Die weitere zytogenetische Untersuchung am 09.09.1994 habe ebenfalls ein XY-Chromosom ergeben. Ab September oder Oktober 1994 habe eine paradoxe Hormonbehandlung mit Östrogen stattgefunden. Dadurch habe die Klägerin eine schwere Erkrankung an der Psyche, im Stoffwechselhaushalt, an Knochen und Gewebe erlitten, die bis heute andauert, gravierend missachtet. Durch die Fehlinformation sei es zu Parästhesien bis zur Gefühllosigkeit im Genitalbereich gekommen.

Nach richterlichem Hinweis teilte die Klägerin mit, dass eine Missachtung des Geschlechts stattgefunden habe. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit sei dauerhaft verletzt worden. Diese Handlungen wären zu keinem Zeitpunkt Heilbehandlungen gewesen. Dies könne durch Einvernahme eines sachverständigen Mitglieds im Netzwerk Intersexualität bestätigt werden. Es habe eine rein optische Anpassung an die Gesellschaft stattgefunden. Die Hormonbehandlung habe an 16 unterschiedlichen Stellen unerwünschte Wirkungen nach sich gezogen. Eine bayerische Behörde unterstützt die Täter, die eine egoistische Falschaufklärung betrieben hätten. Der Umgang mit Intersexualität sei auch Gegenstand des UN Antifolter-Ausschusses CAT (Committee against torture) gewesen. Die Klägerin legte Befundberichte zur Knochendichtemessung und Empfehlungen der Bundesregierung zur Arbeitsgruppe Trans- und Intersexualität vor, wonach den Vertragsstaaten empfohlen wird, bei Vorfällen, in denen intersexuelle Menschen ohne wirksame Einverständniserklärung chirurgisch oder anderweitig medizinisch behandelt wurden, zu untersuchen, und Rechtsvorschriften zu erlassen, die den Opfern solcher Behandlungen Rechtsschutzmöglichkeiten, einschließlich angemessene Entschädigungen, gewähren.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

den Bescheid des Zentrum Bayern Familie und Soziales - Versorgungsamt vom 26.07.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides des Landesversorgungsamtes vom 21.03.2011 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, hinsichtlich der vorliegenden Gesundheitsstörungen einen vorsätzlich rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 S. 1 OEG festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Hinsichtlich weiterer Einzelheiten wird auf die Prozessakten sowie die beigezogenen Akten des Beklagten Bezug genommen.

 

Entscheidungsgr...

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