Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitssuchende - einstweiliger Rechtsschutz - Erwerbsfähigkeit - keine Fiktion der Erwerbsfähigkeit nach § 44a SGB II bei Bürgergeldbezug nach § 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II
Leitsatz (amtlich)
1.
Gewährt das Jobcenter Bürgergeld nach§ 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II (früher „Sozialgeld“), weil es den in einer Bedarfsgemeinschaft mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen lebenden Leistungsberechtigten als erwerbsunfähig auf Zeit ansieht, so kann sich der Leistungsberechtigte nicht mit Erfolg auf eine Fiktion seiner Erwerbsfähigkeit nach§ 44a Abs. 1 Satz 7 SGB II berufen, um durch den Bürgergeldbezug nach§ 19 Abs. 1 Satz 1 SGB II dem Pflichtversicherungstatbestand des§ 5 Abs. 1 Nr. 2a SGB V zu unterfallen.
2.
Einer Abstimmung des Jobcenters mit dem Sozialhilfeträger im Wege des§ 44a Abs. 1 SGB II bedarf es nicht, wenn kein Zuständigkeitsstreit besteht und - sei es auch „nur“ über§ 19 Abs. 1 Satz 2 SGB II - Leistungen nach dem SGB II erbracht werden; im Sinne einer teleologischen Reduktion der Norm ist das Jobcenter dann alleine befugt, über die Erwerbsfähigkeit zu entscheiden (Anschluss anBSG v. 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R , RdNr 21 ).
Tenor
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung wird abgelehnt.
Die Beteiligten haben einander keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Dem Antragsteller wird für das Verfahren vor dem Sozialgericht Prozesskostenhilfe mit Wirkung vom 9.8.2024 bewilligt und Rechtsanwalt … beigeordnet.
Gründe
Der am 6.8.2024 beim Sozialgericht Berlin gestellte Hauptantrag und der am 18.8.2024 darüber hinaus gestellte Hilfsantrag des Antragstellers,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, für ihn vorläufig ab dem 6.8.2024 Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung an die DAK abzuführen,
hilfsweise den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, zumindest festzustellen, dass zu Beginn des Leistungsbezugs nach SGB II Bürgergeld bezogen wurde und dies der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung (DAK) anzuzeigen, damit die Mitgliedschaft des Antragstellers in der gesetzlichen Kranken-
und Pflegeversicherung entsteht,
waren abzulehnen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht erfüllt sind.
Nach § 86b Abs. 2 S. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Die danach zu treffende Eilentscheidung kann, wie das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung in Zusammenhang mit Leistungen nach dem SGB II bzw. Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) betont hat (3. Kammer des Ersten Senats, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05 ), sowohl auf eine Folgenabwägung (Folgen einer Stattgabe gegenüber den Folgen bei Ablehnung des Eilantrages) als auch alternativ auf eine Überprüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache gestützt werden.
Die Kammer nimmt im vorliegenden Fall eine Entscheidung am Maßstab der Erfolgsaussichten der Hauptsache vor. Denn eine Folgenabwägung kommt nur in Betracht, wenn eine abschließende Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht möglich ist (vgl.BVerfG v. 8.7.2020 - 1 BvR 932/20 , RdNr. 11 ; juris). Auch wenn irreparable Grundrechtsverletzungen von erheblichem Gewicht drohen, ist das Gericht nicht von vornherein daran gehindert, auch zu solchen Rechtsfragen eine „abschließende“ rechtliche Prüfung vorzunehmen, die schwierig und ungeklärt sind oder die im entscheidungserheblichen Zeitpunkt als hoch streitig eingestuft werden müssen (so ausdrücklich BVerfG, aaO, RdNr. 12; juris); die sich daraus indes ergebenen Anforderungen an die Begründungstiefe der Entscheidung führen dazu, dass die „abschließende“ Entscheidung eine zumindest knappe Auseinandersetzung mit dem Meinungsstand erfordert (BVerfG, aaO).
Bei Abstellen auf die Erfolgsaussichten der Hauptsache setzt die Gewährung einstweiligen Rechtschutzes einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind glaubhaft zu machen ( § 86b Abs. 2 S. 4 SGG iVm § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung -ZPO-).
Der Antragsteller hat das Vorliegen eines Anordnungsgrundes nicht glaubhaft gemacht.
Für die mit dem Hauptantrag (wörtlich) beantragte einstweilige Verpflichtung des Antragsgegners zur Abführung von Beiträgen an die Krankenkasse fehlt ein diesbezügliches subjektives Recht, denn nicht die Meldung oder Betragsabführung führt zur Pflichtversicherung, sondern allein die Gewährung von Leistungen nach§ 19 Abs. 1 S. 1 SGB II (vgl. dazu etwaBSG v. 13.8.1996 - 12 RK 15/96 ; zuletzt auchLSG Nordrhein-Westfalen v. 24.9.2014 - L 19 AS 1680/14 B ER, Rn...