Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Feststellung fehlender Erwerbsfähigkeit durch die Agentur für Arbeit. Erstattungsanspruch des Grundsicherungsträgers gegen den Sozialhilfeträger nach § 103 SGB 10. Umfang des Erstattungsanspruchs. Rückgriff auf § 86 SGB 10. gegenseitige Rücksichtnahme. Pflicht des Grundsicherungsträgers zur Rentenantragsstellung
Leitsatz (amtlich)
1. Der Leistungsträger nach dem SGB II hat auch dann gegen den Leistungsträger nach dem SGB XII einen Erstattungsanspruch, wenn er es unterlassen hat, einen Antrag gemäß § 5 Abs 3 SGB II beim zuständigen Rentenversicherungsträger zu stellen und kein Ermessensfehler ersichtlich ist.
2. Bei den Regelungen der §§ 102 ff SGB X handelt es sich um ein geschlossenes System, das sämtliche Ausgleichsansprüche abschließend umfasst.
3. Eines Rückgriffs auf § 86 SGB X aufgrund des Prinzips der gegenseitigen Rücksichtnahme bedarf es nicht.
Tenor
1. Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 2.368,22 € zu leisten.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Die Berufung wird zugelassen.
4. Der Streitwert wird endgültig auf 2.368,22 € festgesetzt.
Tatbestand
Streitgegenständlich ist die Höhe des vom Kläger gegenüber dem Beklagten geltend gemachte Erstattungsanspruch nach § 44a Abs. 2 SGB II in Verbindung mit § 103 SGB X.
Der Kläger leistete dem am 30.11.1969 geborenen leistungsberechtigten ... (im Folgenden PH) Leistungen der Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) seit dem 01.05.2018. Nachdem der ärztliche Dienst der Agentur für Arbeit am 13.02.2019 festgestellt hatte, dass der PH für einen Zeitraum von voraussichtlich länger als 6 Monate täglich nur weniger als 3 Stunden täglich Tätigkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne, zeigte der Kläger mit Schreiben vom 18.02.2019 seinen Erstattungsanspruch beim Beklagten als zuständigen Träger für die Leistungen nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII) an. Er verwies hierbei darauf, dass nach seinen Feststellungen ein Anspruch des PH auf eine Rente wegen Erwerbsminderung nicht in Betracht komme, da die rentenrechtlichen Zeiten offensichtlich nicht erfüllt seien. Zugleich forderte der Kläger den PH auf, einen entsprechenden Antrag nach dem SGB XII beim Beklagten zu stellen.
Gegen die Feststellung des Klägers, der PH sei nicht erwerbsfähig, erhob der Beklagte am 21.02.2019 Widerspruch nach § 44a Abs. 1 Satz 2 SGB II. Der Kläger leitete daraufhin das ihm obliegende Verfahren ein und forderte den Träger der gesetzlichen Rentenversicherung auf, eine gutachterliche Stellungnahme abzugeben. Der Kläger leistete dem PH unterdessen weiterhin Alg II - ungeachtet seiner eigenen Feststellung, dieser sei nicht erwerbsfähig. Der Träger der gesetzlichen Rentenversicherung stellte am 09.10.2019 gemäß § 44a Abs. 1 SGB II in Verbindung mit § 109a Abs. 3 SGB VI bindend für die beteiligten Träger fest, dass der Leistungsberechtigte PH auf Dauer voll erwerbsgemindert ist. Der Kläger stellte daraufhin die Leistungsgewährung nach dem SGB II zum 31.10.2019 ein. Der PH beantragte am 04.11.2019 Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach dem SGB XII beim Beklagten.
Mit Schreiben vom 13.11.2019 forderte der Kläger vom Beklagten für den Zeitraum 01.02.2019 bis zum 31.10.2019 die Erstattung in Höhe von insgesamt 7.281,00 €.
Der Beklagte bewilligte dem PH mit Bescheid vom 18.11.2019 Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB XII ab dem 01.11.2019 und forderte ihn zugleich dazu auf, einen Antrag auf Rente wegen Erwerbsminderung bei der Deutschen Rentenversicherung zu stellen. Der Beklagte seinerseits machte mit Schreiben vom gleichen Tag einen Erstattungsanspruch bei der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Baden-Württemberg geltend. Vorsorglich und fristwahrend stellte der Beklagten selbst bei der DRV einen Antrag gemäß § 95 SGB XII.
Am 19.11.2019 teilte die DRV Baden-Württemberg dem Beklagten mit, dass ein formeller Rentenantrag bislang nicht vorliege. Für die Prüfung, ob Versicherungszeiten des PH in Frankreich vorliegen würden, sei die DRV Rheinland-Pfalz zuständiger Rentenversicherungsträger.
Die DRV Rheinland-Pfalz teilte dem Beklagten am 20.08.2020 mit, dass dem PH ausgehend von einem Leistungsfall am 09.11.2018 und einem formellen Rentenantrag vom 12.05.2020 eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab dem 01.05.2020 bewilligt worden sei. Auf Rückfrage des Beklagten teilte die DRV Rheinland-Pfalz am 02.09.2020 mit, dass der formlos gestellte Rentenantrag des Beklagten vom November 2019 übersehen worden sei. Der Rentenantrag würde überprüft und für die Zeit ab 01.11.2019 bewilligt werden. Außerdem teilte die DRV mit, dass ein formloser Rentenantrag seitens des Klägers nicht vorliegen würde und der erste Rentenantrag auf den 18.11.2019 durch den Beklagten datiere.
Mit Schreiben vom 28.09.2020 erinnerte der Kläger an seinen Erstattungsanspruch.
Am 01.10.2020 erklärte der Beklagte gegenüber dem Kläger, dass der PH für die Zeit ab dem 01.11.2019 einen An...