Entscheidungsstichwort (Thema)
Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto. Beitragsfiktion. Rentenbeginn
Orientierungssatz
Trotz der durch die Beitragsfiktion nach § 2 Abs 1 ZRBG entstandenen nachträglichen Versicherteneigenschaft reicht die Fiktion dieser Vorschrift nicht so weit, dass hierdurch die fiktive Beitragszeit bereits mit Vollendung des 65. Lebensjahres (hier: im Jahr 1985) als zurückgelegt und damit die allgemeine Wartezeit zusammen mit den Verfolgungsersatzzeiten zu diesem Zeitpunkt als erfüllt gilt (Anschluss an SG Lübeck vom 23.4.2013 - S 6 R 353/11 = juris RdNr 26 und vom 24.4.2013 - S 45 R 675/11 = juris RdNr 26).
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beklagte trägt von den notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin die Hälfte.
Die Sprungrevision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen früheren Beginn der Regelaltersrente der Klägerin.
Die 1920 in Ungarn geborene Klägerin ist inzwischen amerikanische Staatsangehörige. Sie lebt in den USA und bezieht dort auf ihren am 15. Oktober 1990 gestellten Antrag hin eine Rente vom US-Rentenversicherungsträger. Sie ist Jüdin und wurde als solche Opfer nationalsozialistischer Verfolgung. Vom 16. April bis 15. Mai 1944 hielt sie sich in einem ungarischen Ghetto auf. Sie besaß nie die deutsche Staatsangehörigkeit und gehörte nicht zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Am 25. November 2010 beantragte sie die Gewährung einer Altersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungszeiten im Ghetto (ZRBG). Mit Bescheid vom 3. Mai 2011 gewährte die Beklagte ihr daraufhin Regelaltersrente ab 1. November 2010 in Höhe von monatlich € 228,70. Anerkannt wurden eine Ghetto-Beitragszeit vom 16. April bis 15. Mai 1944 und verfolgungsbedingte Ersatzzeiten vom 31. März bis 15. April 1944 und vom 16. Mai 1944 bis 31. Dezember 1949.
Gegen den Rentenbescheid erhob die Klägerin am 10. Mai 2011 Widerspruch. Sie mache einen früheren Rentenbeginn geltend. Diesem sei unter Anwendung des deutschamerikanischen Sozialversicherungsabkommens (SVA) die Rentenantragstellung in den USA zugrunde zu legen.
Das Amerikanische Generalkonsulat FBU teilte der Beklagten auf Anfrage mit, dass die amerikanischen Rentenakten des Antrages vom 15. Oktober 1990 vernichtet seien. Mit Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 2011 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Im US-Rentenantrag seien keine deutschen Versicherungszeiten angegeben worden. Zum Zeitpunkt der Rentenantragstellung in den USA sei daher in Deutschland kein Rentenverfahren einzuleiten gewesen.
Dagegen hat die Klägerin am 27. Oktober 2011 beim Sozialgericht Lübeck Klage erhoben (S 14 R 761/11). Nach Art. 14 Abs. 1 SVA sei der amerikanische Rentenantrag dem deutschen Antrag gleichgestellt. Der Antrag müsse lediglich erkennen lassen, dass auch deutsche Versicherungszeiten geltend gemacht werden. Der Beratungsfehler der US-Rentenbehörde sei der Beklagten zurechenbar. Die Klägerin habe außerdem schon am 13. Februar 1985 das 65. Lebensjahr vollendet. Bereits zu diesem Zeitpunkt sei ihr Rentenanspruch nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung (RVO) entstanden, ohne dass eine Antragstellung erforderlich gewesen wäre. Durch die rückwirkende Beitragsfiktion nach dem ZRBG sei die Wartezeit schon bei der Vollendung des 65. Lebensjahres erfüllt gewesen.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 3. Mai 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10. Oktober 2011 und der Bescheide vom 2. März 2015 und 16. November 2015 zu verurteilen, der Klägerin Regelaltersrente auch für die Zeit vom 1. März 1985 bis 30. Juni 1997 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Rechtsauffassung der Klägerin werde weder durch den Wortlaut noch durch den Normzweck des ZRBG gestützt.
Der Rechtsstreit hat aufgrund zweier Musterverfahren vor dem Sozialgericht Lübeck gemäß Beschluss vom 19. September 2013 geruht. Die Wiederaufnahme ist am 18. August 2014 nach Inkrafttreten des ZRBG-Änderungsgesetzes am 1. August 2014 erfolgt. In Anwendung dieses Gesetzes hat die Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 2. März 2015 die Altersrente bereits ab 1. Juli 1997 gewährt und einen Betrag in Höhe von € 22.987,29 nachgezahlt. Am 17. März 2015 hat die Beklagte ein entsprechendes Teilanerkenntnis abgegeben und erklärt, dass sei bereit sei, die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zur Hälfte zu tragen. Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis angenommen. Mit Bescheid vom 16. November 2015 hat die Beklagte die Rente der Klägerin unter Anerkennung von Kindererziehungsleistungen neu berechnet. Die Nachzahlung hat € 13.800,48 betragen.
Das Gericht hat die Verwaltungsakten der Beklagten beigezogen und zusammen mit der Prozessakte zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Der Bescheid der Beklagten vom 3. Mai 2011 in der Gesta...