0 Rechtsentwicklung
Rz. 1
Das Gesetz zur verbesserten Nutzung von Gesundheitsdaten (Gesundheitsdatennutzungsgesetz – GDNG) v. 22.3.2024 (BGBl. I 2024 Nr. 102) hat die Norm in Art. 3 Nr. 2 mit Wirkung zum 26.3.2024 neu eingeführt. Das Ausgabedatum wurde durch BGBl. 2024 I Nr. 102a geändert und mit Wirkung zum 26.3.2024 neu eingefügt.
1 Allgemeines
Rz. 2
§ 1 Satz 4 verpflichtet die Krankenkassen dazu, den Versicherten auch durch Aufklärung, Beratung und Leistungen Hilfestellung zu bieten und unter Berücksichtigung von geschlechts-, alters- und behinderungsspezifischen Besonderheiten auf gesunde Lebensverhältnisse hinzuwirken. § 25b fügt mit der datengestützten Erkennung individueller Gesundheitsrisiken durch die Kranken- und Pflegekassen eine neue Leistung hinzu. Nach Auffassung des Gesetzgebers ist die Verarbeitung der, bei den Kranken- und Pflegekassen vorliegenden personenbezogenen Daten der Versicherten zum Zwecke der Gesundheitsvorsorge, der Versorgung oder Behandlung im Gesundheitsbereich gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. h der Verordnung (EU) 679/2016 und zur Gewährleistung hoher Qualitäts- und Sicherheitsstandards bei der Gesundheitsversorgung und bei Arzneimitteln und Medizinprodukten gemäß Art. 9 Abs. 2 Buchst. i der Verordnung (EU) 679/2016 im öffentlichen Interesse und im Bereich der öffentlichen Gesundheit erforderlich (BT-Drs. 20/9046 S. 61).
Rz. 3
Abs. 1 knüpft die Datenauswertung, die der Erkennung von potenziell schwerwiegenden gesundheitlichen Risiken dienen soll, an die in der Norm enumerativ genannten Zwecke. Abs. 2 regelt Näheres, um Nachteile für Versicherte zu minimieren und dem Datenschutz Rechnung zu tragen. Nach Abs. 3 ist die Datenverarbeitung zu unterlassen, soweit der Versicherte einer Datenverarbeitung ausdrücklich widersprochen hat. Abs. 4 und Abs. 5 schaffen eine erhöhte Informationspflicht für die Kranken- und Pflegekassen, wenn die Auswertung eine konkrete Gesundheitsgefährdung identifiziert. Zur Verbesserung der Transparenz im Rahmen der Datenauswertung normiert Abs. 6 eine Anzeigepflicht der Kranken- und Pflegekasse gegenüber der Aufsichtsbehörde. Abs. 7 verbietet die Bevorzugung oder Benachteiligung eines Versicherten, der der Datenverarbeitung widersprochen hat. Abs. 8 verpflichtet den Spitzenverband Bund der Krankenkassen zur regelmäßigen Information an das Bundesministerium für Gesundheit zum Zwecke der Evaluierung. Abs. 9 beinhaltet vor dem Hintergrund des Wirtschaftlichkeitsgebots eine interne Haftungsregelung bei rechtswidriger Datenverarbeitung.
Die Norm ist systematisch ungeordnet und ein typisches Zeichen des schwerfälligen Versuchs der Grenzziehung zwischen Datennutzung und Datenschutz. In der Umsetzung wird sie personellen Mehrbedarf zur Folge haben, ihr Nutzen ist zweifelhaft. Dem erklärten Ziel der regierenden Koalition, Bürokratie abzubauen, läuft sie eher zuwider.
2 Rechtspraxis
2.1 Zweckgebundene Datennutzung (Abs. 1)
Rz. 4
Abs. 1 ermöglicht es den Kranken- und Pflegekassen, zum Gesundheitsschutz eines Versicherten, datengestützte Auswertungen der ihnen vorliegenden Informationen über medizinische und pflegerische Sachverhalte vorzunehmen und den Versicherten auf die Ergebnisse dieser Auswertung hinzuweisen. Der Terminus "Hinweis" impliziert, dass die Versicherten lediglich vom Ergebnis der Auswertung in Kenntnis gesetzt werden und dadurch weder in die ärztliche Therapiefreiheit eingegriffen noch die Wahlfreiheit der Versicherten beschränkt werden darf. Die Auswertung der Daten hat streng zweckgebunden zu erfolgen. Das bedeutet, dass eine Auswertung nur dann erfolgen darf, wenn eine der in Abs. 1 Nummern 1 bis 6 enumerativ genannten Voraussetzungen erfüllt ist.
2.1.1 Erkennung von seltenen Krankheiten (Abs. 1 Nr. 1)
Rz. 5
Abs. 1 Nr. 1 ermöglicht die Datenauswertung zur Erkennung von seltenen Erkrankungen. Die Norm definiert den Begriff "seltene Erkrankungen" nicht. Nach der EU Definition in Verordnung (EG) Nr. 141/2000 bezeichnet der Begriff eine Erkrankung, von der nach dem allgemein anerkannten Schwellenwert nicht mehr als 5 von 10.000 Personen in der Gemeinschaft betroffen sind. Daran anknüpfend findet sich in § 116b Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 zur Inhaltsbestimmung der ambulanten spezialärztlichen Versorgung (ASV) eine Definition, auf die für § 25b zurückgegriffen werden kann. Der in § 116b definierte Katalog umfasst seltene Erkrankungen und Erkrankungszustände mit entsprechend geringen Fallzahlen wie
- Tuberkulose,
- Mukoviszidose,
- Hämophilie,
- Fehlbildungen, angeborene Skelettsystemfehlbildungen und neuromuskuläre Erkrankungen,
- schwerwiegende, immunologische Erkrankungen,
- biliäre Zirrhose,
- primär sklerosierende Cholangitis,
- Morbus Wilson,
- Transsexualismus,
- Versorgung von Kindern mit angeborenen Stoffwechselstörungen,
- Marfan-Syndrom,
- pulmonale Hypertonie,
- Kurzdarmsyndrom,
- Versorgung von Patienten vor oder nach Organtransplantation und von lebenden Spendern.
Die Zusammenführung der bei den Kassen vorliegenden Daten unterschiedlicher Quellen kann eine Beschleunigung der Erkennung einer der seltenen Erkrankungen ermöglichen, die häufig erst im Rahmen von Differentialdiagnosen sukzessive angesichts der Schwere der Erkrankung...