Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verweisungsbeschluss. Wegfall der Bindungswirkung bei offensichtlicher Fehlerhaftigkeit. hier: offensichtliches Nichtvorliegen einer vertrags(zahn)arztrechtlichen Streitigkeit. negativer Kompetenzkonflikt. Bestimmung des zuständigen Gerichts durch das angerufene übergeordnete Gericht
Leitsatz (amtlich)
1. Die Bindungswirkung eines Verweisungsbeschlusses entfällt, wenn dieser offensichtlich fehlerhaft ist und im Ergebnis eine willkürliche Verlagerung des gesetzlichen Richters bedeutet. In diesem Fall muss die Rechtsfolge der §§ 98 SGG, 17a Abs 2 S 3 GVG hinter dem Rechtsgedanken des Art 101 GG zurücktreten. Macht ein Kläger Ansprüche gegen das Versorgungswerk der Landeszahnärztekammer geltend liegt offensichtlich keine dem Vertragsarztrecht im Sinne des § 10 Abs 2 SGG zuzuordnende Streitigkeit vor.
2. Ist keines der beiden am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte für den Rechtsstreit tatsächlich zuständig, kann das gemäß § 58 Abs 1 Nr 4 SGG angerufene übergeordnete Gericht, das ausschließlich zuständige Gericht ausnahmsweise nach Anhörung der Beteiligten bestimmen.
Normenkette
SGG § 10 Abs. 2 S. 1, § 51 Abs. 1 Nrn. 4, 10, § 58 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2, § 98 S. 1, § 177
Tenor
Der Verweisungsbeschluss des Sozialgerichts Altenburg vom 1. Juni 2021 wird aufgehoben und der Rechtsstreit an das Verwaltungsgericht Gera verwiesen.
Die Kostenentscheidung bleibt der Entscheidung in der Hauptsache vorbehalten.
Gründe
I.
Der Antragsteller reichte am 3. April 2021 eine Klage verbunden mit dem Vermerk „Eilt“ beim Sozialgericht Altenburg wegen so wörtlich „Verweigerung der Daseinsvorsorge für den behinderten Kläger“ ein. Zur Begründung führte er aus, dass die beklagte Landeszahnärztekammer ihm die zustehende Altersvorsorge nicht auszahle und damit seine Daseinsvorsorge verweigere. Dies müsse durch Schadensersatz aus sozialrechtlichem Herstellungsanspruch behoben werden. Er sei prozessunfähig, und es müsse eine besondere Vertreterin bestellt werden.
Mit Beschluss vom 1. Juni 2021 hat das Sozialgericht Altenburg sich für örtlich unzuständig erklärt und den Rechtsstreit an das Sozialgericht Gotha verwiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass für Streitigkeiten der Kassenärzte und Kassenzahnärzte in Thüringen nach § 4 des Thüringer Gesetzes zur Ausführung des Sozialgerichtsgesetzes (ThürAGSGG) ausschließlich das Sozialgericht Gotha örtlich zuständig sei. Daher sei der Rechtsstreit gemäß § 98 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) i. V. m. § 17a des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) an das örtlich zuständige Sozialgericht Gotha zu verweisen.
Mit Beschluss vom 2. August 2021 hat sich das Sozialgericht Gotha ebenfalls für örtlich nicht zuständig erklärt und den Rechtsstreit dem Thüringer Landessozialgericht zur Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts vorgelegt. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass das Begehren des Klägers bzw. Antragstellers im Sinne der Geltendmachung eines Amtshaftungsanspruchs nach § 839 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) i. V. m. Art. 34 Satz 3 des Grundgesetzes (GG) auszulegen sei. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch scheide ersichtlich aus. Es liege daher ein Zivilrechtsstreit vor. Offensichtlich liege kein Rechtsstreit aus dem Katalog des § 10 Abs. 2 SGG (Vertragsarztrecht) vor, sodass § 4 ThürAGSGG nicht einschlägig sei.
Mit Verfügung vom 5. Oktober 2021 hat der Senat die Beteiligten dazu angehört, dass der Beschluss des Sozialgerichts Altenburg vom 1. Juni 2021 ausnahmsweise wegen objektiver Willkürlichkeit nicht bindend sein dürfte. Offensichtlich könne eine Angelegenheit der Kassenzahnärzte nicht vorliegen, da der Antragsteller Ansprüche auf Leistungen des Versorgungswerkes der Landeszahnärztekammer geltend mache. Vorliegend sei die weitere Besonderheit zu beachten, dass keines der beiden am negativen Kompetenzkonflikt beteiligten Gerichte für den Rechtsstreit tatsächlich zuständig ist. Für Streitigkeiten aus Versorgungseinrichtungen der Zahnärzte sei nach § 40 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten gegeben. Eines Verweisungsantrages bedürfe es nicht. Dies sei von Amts wegen zu beachten. Daher könne der Senat ausnahmsweise als gemäß § 58 Abs. 1 Nr. 4 SGG angerufenes übergeordnetes Gericht das ausschließlich zuständige Verwaltungsgericht Gera selbst bestimmen.
Der Antragsteller hat hierzu mit am 18. Oktober 2021 eingegangenem Schreiben Stellung genommen und erneut auf seine Prozessunfähigkeit verwiesen.
II.
Eine Prozessunfähigkeit des Antragstellers liegt nicht vor (vgl. hierzu nur - unter Hinweis auch auf eine Entscheidung des BVerfG betreffend die Prozessfähigkeit des Erinnerungsführers - Bundessozialgericht ≪BSG≫, Beschluss vom 26. Januar 2017 - B 6 KA 94/16 B, nach Juris); er hat keinen Anspruch auf die Bestellung eines besonderen Vertreters (vgl. nur Thüringer Landessozialgericht, Beschluss vom 29. April 2016 - L 6 R 247/16 B und BSG, Beschluss vom 14. August 2017 - B 12 KR 103/14 B, beide na...