Entscheidungsstichwort (Thema)
Soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopfer. DDR-Doping. Verabreichung von Steroiden an jugendliche Sportler durch den Trainer. kein tätlicher Angriff iS des § 1 OEG. Beibringung von Gift. Erforderlichkeit einer Einzelfallprüfung. Nachweis des Vorsatzes. spätere Gesundheitsschäden. ursächlicher Zusammenhang. Doping zur Ermöglichung des Trainings. keine eindeutige kausale Zuordnung
Orientierungssatz
1. Es handelt sich bei der Gabe von Medikamenten in Tablettenform nicht um eine unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende gewaltsame Einwirkung im Sinne des § 1 Abs 1 S 1 OEG .
2. Entgegen der im Rundschreiben des Bundesministeriums für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 25.10.2004 (432 -62 013) geäußerten Ansicht kann nicht schon per se "wegen der gesundheitszerstörenden Wirkung der verabreichten Dopingsubstanzen" davon ausgegangen werden, dass ihre Verabreichung immer eine vorsätzliche Beibringung von Gift darstellt; vielmehr kommt es immer auf den konkreten Einzelfall an.
3. Bei einem Sachverhalt aus der Anfangszeit des DDR-Dopings kann es zweifelhaft erscheinen, ob die Personen, die dem Opfer die Dopingsubstanzen verabreicht haben, überhaupt die schädigenden Wirkungen im Sinne eines Wissens und Wollens in ihren Vorsatz aufgenommen haben.
4. Überlastungen des Körpers durch Trainingsvolumina und -intensitäten sind im mehrjährig ausgeübten Hochleistungssport nichts Außergewöhnliches und treten auch ohne die Einnahme von Dopingmitteln auf, sodass eine eindeutige kausale Zuordnung von Gesundheitsschäden zur Einnahme von Dopingmitteln zwecks Ermöglichung des Trainings nicht immer möglich erscheint (Abgrenzung zu LSG Halle vom 22.3.2017 - L 7 VE 12/15 ).
Nachgehend
Tenor
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Gotha vom 28. Mai 2019 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Berufungsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung von Rechtsanwalt L wird abgelehnt.
Tatbestand
Der Kläger begehrt Leistungen der Opferentschädigung wegen DDR-Dopings.
Der 1955 geborene Kläger besuchte von Juli 1968 bis Dezember 1971 die Kinder- und Jugendsportschule „S“ in H. In dieser Zeit hat er beim SC-Dynamo H Leichtathletik (Hammerwerfen, Diskuswerfen und Kugelstoßen) als Leistungssport betrieben. Aufgrund nachlassender schulischer Leistungen nahmen ihn seine Eltern Ende 1971 aus der Kinder- und Jugendsportschule (bzw. musste er die Schule verlassen).
Seinen Angaben zufolge wurden ihm während dieser Zeit jeweils vor Beginn sportlicher Höhepunkte im Wettkampfjahr Tabletten in verschiedenen Farben zusammen mit Zusatzpräparaten verabreicht. Bei häufiger vorkommenden körperlichen Zusammenbrüchen während des Krafttrainings sei er vom Trainer angewiesen worden, sich in der Sportmedizin einen „Cocktail“ verabreichen zu lassen. Danach sei er wieder zu körperlichen Höchstleistungen bereit gewesen. Nach seinen Angaben habe er nicht gewusst, welche Präparate ihm verabreicht wurden.
Am 30. April 2014 beantragte er unter Beifügung von Unterlagen aus dem Verfahren nach dem Dopingopferhilfegesetz (DOHG - dort waren ihm Leistungen in vierstelliger Höhe bewilligt worden) beim seinerzeit zuständigen Land Berlin die Gewährung von Beschädigtenversorgung. Als Gesundheitsschäden gab er eine schwere Gonarthrose in allen großen Gelenken (Knie, Ellenbogen, Schultern, Lendenwirbel und Hüfte) sowie schwere körperliche Einschränkungen der Beweglichkeit an.
Das Land Berlin holte eine versorgungsärztliche Äußerung ein. Nach der Stellungnahme der Fachärztin für Chirurgie H1 vom 15. Juli 2017 handele es sich mit überwiegender Wahrscheinlichkeit um die dem Hochleistungssport geschuldeten Verschleißerscheinungen der Lendenwirbelsäule, der Schulter-, Ellenbogen-, Hüft- und Kniegelenke, die durch die im Alter zunehmenden degenerativen Veränderungen und das Übergewicht (Gewicht und Größe im Jahre 2009: 143 kg, 192 cm) noch verstärkt würden.
Der Antrag des Klägers wurde mit Bescheid vom 30. Juli 2015 abgelehnt. Mit seinem Widerspruch vom 25. August 2015 (Eingang am 27. August 2015) machte der Kläger noch weitere Gesundheitsstörungen (Erkrankungen im Magen-Darm-Bereich, der Nieren und des Herzens) geltend. Der Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 13. Oktober 2015 (berichtigt durch Bescheid vom 10. Dezember 2015) zurückgewiesen.
Gegen die Bescheide erhob der Kläger am 09. November 2015 Klage zum Sozialgericht. Der Kläger legte eine Vielzahl medizinischer Unterlagen aus neuerer Zeit sowie Kopien aus seinem Sozialversicherungsausweis vor. Das Sozialgericht holte ein orthopädisches Gutachten sowie ein internistisches Gutachten über den Kläger ein. Nach dem Gutachten des Orthopäden S vom 13. September 2017 (Bl. 315 ff. d. A.) ist ein Zusammenhang zwischen der Verabreichung von Steroiden im Jugendalter und der beim Kläger festgeste...