Im vom Niedersächsischen FG entschiedenen Streitfall stellte sich das Problem, dass im Zeitpunkt der Durchführung der erstmaligen Veranlagung die Rentenbezugsmitteilung der Rentenversicherung über die Einnahmen des Steuerpflichtigen aus der Leibrente noch nicht vorgelegen hatte. Nach dem Wortlaut der Norm bestehen Zweifel, ob die Voraussetzungen des § 175b Abs. 1 AO dann erfüllt sein können, wenn im Zeitpunkt der Erstveranlagung gar keine übermittelten Daten vorlagen. Im Schrifttum wird die Auffassung vertreten, § 175b Abs. 1 AO greife nach dem Wortlaut nur ein, wenn die fraglichen Daten zum Zeitpunkt der Durchführung der ursprünglichen Veranlagung bereits vorlagen (so z.B. Loose in Tipke/Kruse, § 175b AO Rz. 6).
Diese Rechtsauffassung teilt das Niedersächsische FG jedoch nicht (FG Nds. v. 13.10.2022 – 2 K 123/22, EFG 2023, 1589 = AO-StB 2023, 330 [Sterzinger], Rev. eingelegt, Az. des BFH: X R 25/22). Nach Auffassung des FG sind die Daten auch dann nicht oder nicht zutreffend berücksichtigt, wenn sie erst später übermittelt worden sind. Denn der Wortlaut der Änderungsvorschrift stellt nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt für die Nichtberücksichtigung der übermittelten Daten ab.
§ 175b Abs. 1 AO greift nach Auffassung des FG aber auch in dem Fall ein, in dem der Wortlaut der Norm dahingehend verstanden wird, dass seine Voraussetzungen nur erfüllt sind, wenn zum Zeitpunkt der Veranlagung die übermittelten Daten bereits vorlagen. Denn § 175b Abs. 1 AO ist unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck und der Gesetzeshistorie dahingehend auszulegen, dass von der mitteilungspflichtigen Stelle übermittelte Daten auch "nicht oder nicht zutreffend berücksichtigten wurden", wenn eine entsprechende Datenübermittlung im Zeitpunkt der Veranlagung noch gar nicht vorlag, später die Daten aber übermittelt werden.
Intention des Gesetzgebers: Der Gesetzgeber hat sich bei der Einführung der Änderungsnorm des § 175b AO bewusst dafür entschieden, diese dogmatisch als Ergänzung zur Änderungsnorm für Grundlagenbescheide nach § 175 AO und nicht als Ergänzung des § 173 AO auszugestalten. Dementsprechend hat er keine den §§ 173, 173a und 129 AO vergleichbaren einschränkenden Voraussetzungen bei der Formulierung des § 175b AO vorgesehen. Im Gegensatz zu § 173 AO und § 129 AO kann ein Steuerbescheid nach § 175b AO nämlich auch dann geändert werden, wenn die Tatsachen dem FA bei der Veranlagung schon bekannt waren, den Steuerpflichtigen ein Verschulden an einem verspäteten Bekanntwerden trifft, der fehlerhafte Bescheid auf einer falschen Tatsachenwürdigung oder Rechtsanwendung oder auf einem Ermittlungsfehler der Finanzbehörde und nicht auf einem Schreib-, Rechen- oder sonstigen mechanischen Fehler bei der Übermittlung der Daten beruht. Gerade diese weitgehende Änderungsbefugnis war vom Gesetzgeber beabsichtigt und wurde in der Gesetzesbegründung ausdrücklich dargelegt.
Auslegung des Niedersächsischen FG: Das FG kommt daher zu dem Ergebnis, dass die Vorschrift dahingehend auszulegen ist, dass eine Änderung eines materiell fehlerhaften Bescheides nach § 175b Abs. 1 AO auch möglich ist, wenn bei der ursprünglichen Veranlagung noch keine Datenübermittlung der mitteilungspflichtigen Stelle erfolgt ist. Der Charakter der Änderungsnorm als Ergänzung zu § 175 AO lässt es für eine Änderung ausreichen, dass die Daten später übermittelt werden. Da § 175b AO dogmatisch an die Vorschrift des § 175 AO angelehnt ist, weil der Gesetzgeber mit seiner Einführung bezweckte, den lediglich grundlagenähnlichen Charakter der von Dritten mitgeteilten elektronischen Daten auszugleichen, ist es gerechtfertigt, die Vorschrift dahingehend auszulegen, dass eine Änderung des materiell fehlerhaften Bescheids auch möglich ist, wenn erstmals nach Erlass des fehlerhaften Steuerbescheids Daten von der mitteilungspflichtigen Stelle an das Finanzamt übermittelt werden.