In § 176 AO ist ein besonderer Vertrauensschutz für den Steuerpflichtigen bei der Aufhebung oder Änderung von Steuerbescheiden vorgesehen. Es handelt sich nicht um eine selbstständige Vorschrift zur Korrektur eines Steuerbescheids. Sie gilt vielmehr nur, wenn im Rahmen einer vorgesehenen Korrektur (Wortlaut: "Bei der Aufhebung oder Änderung eines Steuerbescheids darf nicht zuungunsten…") einem in § 176 AO genannten Ereignis Bedeutung zukommt.
Dies ist der Fall, wenn das BVerfG eine zugrunde liegende Gesetzesvorschrift für nichtig erklärt (Fall des Abs. 1 Nr. 1), der BFH eine Norm, auf der die bisherige Steuerfestsetzung beruht, nicht anwendet, weil er sie für verfassungswidrig hält (Fall des Abs. 1 Nr. 2) oder er seine Rechtsprechung ändert (Fall des Abs. 1 Nr. 3). Ebenso darf gem. § 176 Abs. 2 AO nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden, wenn eine allgemeine Verwaltungsvorschrift, z. B. in den Einkommensteuer-Richtlinien, vom BFH als nicht mit dem Gesetz in Einklang stehend bezeichnet worden ist.
Die Anwendung des § 176 AO kommt nur in Betracht, wenn sich die darin genannten Ereignisse zu Ungunsten des Steuerpflichtigen auswirken. Sie schützt aber nicht das Vertrauen in die Gesetzgebung oder die höchstrichterliche Rechtsprechung, sondern nur in die Bestandskraft der Steuerfestsetzung. Somit sind von § 176 AO nicht erstmalige Festsetzungen, sondern nur Änderungsbescheide erfasst.
Änderung der Rechtsprechung vor Erlass des Erstbescheids kein Fall des § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO
S macht in seiner Steuererklärung bestimmte Werbungskosten geltend, die nach der Rechtsprechung des BFH anzuerkennen wären. Vor Ergehen des erstmaligen Steuerbescheids ändert der BFH seine Rechtsprechung. Dies ist kein Fall des § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO, sodass insoweit der Streichung der Werbungskosten im zu erlassenden Bescheid nichts entgegenstünde. Die Vorschrift greift letztlich nur, wenn sich die Rechtsprechung in der Zeit zwischen dem Erlass des ursprünglichen Bescheids und dem Erlass des Änderungsbescheids geändert hat. Es wird also nur das Vertrauen in die Bestandskraft eines Steuerbescheids geschützt. Hätte das Finanzamt – unter Anerkennung der Werbungskosten – sofort einen Bescheid unter Vorbehalt der Nachprüfung gem. § 164 AO erlassen und der BFH erst anschließend seine Rechtsprechung geändert, wäre das Finanzamt wegen des nunmehr anzuwendenden § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO an einer Korrektur nach § 164 Abs. 2 AO gehindert.
Ändert sich die höchstrichterliche Rechtsprechung erst während des gegen einen Änderungsbescheid angestrengten Einspruchsverfahrens, ist es dem Finanzamt nicht verwehrt, die Einspruchsentscheidung auf die zulasten des Steuerpflichtigen geänderte Rechtsprechung zu stützen.
Das Vertrauen in die Gesetzgebung und die höchstrichterliche Rechtsprechung als solche wird allenfalls durch sog. Übergangs- bzw. Billigkeitsregelungen geschützt, die auf der Grundlage von BMF-Schreiben erfolgen.
Auch die Gerichte müssen im Rahmen des § 176 AO Vertrauensschutz gewähren, wenn ein Änderungsbescheid Verfahrensgegenstand ist.
Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal "Änderung der Rechtsprechung"
Eine Rechtsprechungsänderung i. S. d. § 176 Abs. 1 Nr. 3 AO liegt nur dann vor, wenn ein im Wesentlichen gleicher Sachverhalt abweichend von einer früheren höchstrichterlichen Entscheidung beurteilt worden ist. Eine erstmalige Entscheidung des BFH zu einer bestimmten Rechtsfrage kann also niemals darunter fallen. Solange zu einer bestimmten Rechtsfrage keine eindeutige höchstrichterliche Rechtsprechung besteht, sich diese vielmehr erst allmählich entwickelt oder verschärft, kommt ein Vertrauensschutz ebenso wenig in Betracht.
Bei diesem Tatbestand kommt es darüber hinaus darauf an, dass die Finanzbehörde die bisherige Rechtsprechung angewandt hat (1. Alternative) oder angewandt hätte (2. Alternative).
Hauptanwendungsgebiet des § 176 AO sind die Fälle der Vorbehalts- und Vorläufigkeitsfestsetzung. Im Rahmen des § 173 AO findet § 176 AO wegen des "Prinzips der Rechtserheblichkeit einer neuen Tatsache" nur insoweit Anwendung, als zugleich die Berichtigung von materiellen Fehlern nach § 177 AO in Betracht kommt. Aufgrund der einseitigen Zielsetzung des § 176 AO kann dies allerdings nur im Rahmen des § 173 Abs. 1 Nr. 2 AO gelten. Werden dementsprechend nachträglich Tatsachen bekannt, die eine niedrigere Steuer rechtfertigen, so können zum Nachteil des Steuerpflichtigen keine materiellen Fehler i. S.d § 177 AO berichtigt werden, die auf Ereignisse der in § 176 AO genannten Art zurückgehen. Denn die Grundsätze des § 176 AO sind auch im Rahmen des § 177 AO zu berücksichtigen.
Über die Verweisungsregelung des § 239 Abs. 1 Satz 1 AO ist § 176 AO auch bei der Festsetzung von Zinsen zu beachten. Große praktische Bedeutung erlangt aktuell die Nr. 1 des § 176 Abs. 1 AO bei der Vollverzinsung nach § 233a AO, insbesondere im Hinblick auf Erstattungszinsen durch die im Rahmen des Zweiten Gesetzes zur Änder...