Leitsatz
§ 191 Abs. 2 AO ist auch auf Steuerberatungs-, Wirtschaftsprüfungs- und Buchprüfungsgesellschaften anzuwenden.
In Ausübung seines Berufs im Sinne des § 191 Abs. 2 AO kann ein Berufsträger auch dann handeln, wenn die Finanzbehörde ihn als faktischen Geschäftsführer in Haftung nehmen möchte.
Die Anhörung nach § 191 Abs. 2 AO setzt voraus, dass der Berufskammer alle für eine sachlich fundierte Stellungnahme erforderlichen tatsächlichen Umstände des Einzelfalls zur Kenntnis gebracht werden. Fehlt es hieran, ist ein vorher erlassener Haftungsbescheid rechtswidrig. Die Anhörung kann im finanzgerichtlichen Verfahren nicht mehr nachgeholt werden.
Sachverhalt
Die Klägerin, eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mbH, hatte das Mandat übernommen, die W-GmbH & Co. KG (W) bei der Erstellung und Umsetzung eines Sanierungsplans zu beraten. Die Sanierung scheiterte, und die W mußte Konkursantrag stellen. Das Finanzamt erließ gegen die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft mbH einen Haftungsbescheid wegen nicht abgeführter Lohnsteuern, gestützt auf §§ 69, 34 AO, weil sie faktische Geschäftsführerin der W gewesen sei. Erstmals im Klageverfahren gab das Finanzamt der zuständigen Wirtschaftsprüferkammer nach § 191 Abs. 2 AO Gelegenheit zur Stellungnahme.
Entscheidung
Zwar sind in § 191 Abs. 2 AO Steuerberatungs-, Wirtschaftsprüfungs- und Buchführungsgesellschaften selbst nicht erwähnt. Das Finanzgericht ist jedoch der Auffassung, daß es sich hier um eine Gesetzeslücke handele, die durch eine analoge Anwendung zu schließen ist. Dies entspricht auch der herrschenden Auffassung in der Literatur.
Die Klägerin habe auch "in Ausübung ihres Berufs" gehandelt, wie dies § 191 Abs. 2 AO voraussetze. Hier dürfe man nicht auf das enge, in § 2 WpO umschriebene Tätigkeitsfeld eines Wirtschaftsprüfers abstellen. Denn § 2 WpO enthalte keine abschließende Regelung der Tätigkeiten eines Wirtschaftsprüfers. Erforderlich ist lediglich ein gewisser äußerer und innerer Zusammenhang mit der Berufsausübung. Gerade die Fälle, in denen der Berufsangehörige eine Stellung im Sinne der §§ 34, 35 AO inne hat (z.B. als Konkursverwalter, Nachlassverwalter, Testamentsvollstrecker, Notvorstand eines Vereins u.ä.) kann es zu Problemen kommen, die letztlich die Frage einer Haftung aufwerfen. Würde man diese Tätigkeiten nicht mehr als mit der Berufsausübung in Zusammenhang stehend ansehen, würde die Vorschrift des § 191 Abs. 2 AO in der Praxis weitgehend bedeutungslos werden. Denn die eigentlichen Tätigkeiten eines Wirtschaftsprüfers sind nur ausnahmsweise geeignet, eine Haftung nach § 69 AO zu begründen.
Das Finanzamt habe daher zwingend die zuständige Berufskammer vor der Haftungsinanspruchnahme anhören müssen. Zweck des § 191 Abs. 2 AO ist, die Möglichkeit einer Pflichtenkollision bei Angehörigen der dort genannten Berufsgruppen zu begegnen, die sich daraus ergibt, dass diese Personen einerseits die Interessen ihrer Auftraggeber wahrzunehmen haben, andererseits aber für vorsätzliche und grob fahrlässige Verletzungen der diesen Personen obliegenden Pflichten haften können. Diese Anhörung muß bis zum Abschluss des außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahrens durchgeführt werden. Andernfalls ist der Haftungsbescheid rechtswidrig. Zwar könne die Finanzbehörde ihre Ermessenserwägungen seit der Neufassung der §§ 102 Satz 2 FGO und § 126 Abs. 1 AO noch bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens ergänzen. Die erstmalige Anhörung der Berufskammer während des finanzgerichtlichen Verfahrens stelle aber keine solche Ergänzung dar. Ergänzend im Sinne des § 102 Satz 2 FGO setze einen ergänzungsfähigen Inhalt voraus. Nur bereits an- und dargestellte Erwägungen können ergänzt werden durch Vertiefen, Verbreitern und Verdeutlichen der Erwägungen und der Begründung der Entscheidung. Die erstmalige Kenntnisnahme von Erwägungen der zuständigen Berufskammer und ihrer Einbeziehung in die eigene Ermessensabwägung stelle daher keine "Ergänzung" mehr dar und ist im Prozess unbeachtlich. Abgesehen davon weist das Finanzgericht noch darauf hin, dass das Finanzamt die Berufskammer auch nicht ordnungsgemäß angehört habe, weil sie ihr nicht umfassend den zu beurteilenden Sachverhalt dargelegt habe. Die Klage hatte daher Erfolg.
Hinweis
Leicht gerät man als Rechtsanwalt, Wirtschaftsprüfer oder Steuerberater in die Gefahr, als faktischer Geschäftsführer in Anspruch genommen zu werden, wenn man im Rahmen von Sanierungsmandaten über die Beratung hinausgehende Aufgaben wie Mittelverwendungskontrolle, Geschäftsführungsmaßnahmen und ähnliches übernimmt. Insbesondere die Übernahme von Kontovollmachten hat sich in der Praxis wegen § 35 AO als haftungsanfällig erwiesen. Leicht kann man zum "Verfügungsberechtigten" abgestempelt werden. Umgekehrt ist die Verpflichtung der Finanzbehörde, die zuständige Berufskammer anzuhören, denkbar weit, weil die Tätigkeit des Berufsträgers in der Regel in Ausübung des Berufs liegen wird. Lediglich dann, wenn der Berufsträger in eigenen Angele...