Entscheidungsstichwort (Thema)
Beweiskraft einer Postzustellungsurkunde; Gegenbeweis
Normenkette
FGO §§ 76, 155; ZPO §§ 295, 418 Abs. 1-2, § 182 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
FG Münster (Urteil vom 27.02.2008; Aktenzeichen 12 K 4676/05 E) |
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) machen zu Unrecht einen Anspruch auf Zulassung der Revision gegen das angefochtene Urteil wegen Verfahrensfehlern i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) geltend.
Der Vortrag der Kläger, das Finanzgericht (FG) habe unter Verstoß gegen seine Sachaufklärungspflicht nach § 76 FGO ohne die mit den vorbereitenden Klageschriftsätzen beantragte Beweisaufnahme ―über die streitige Zustellung der angefochtenen Bescheide― zur Sache entschieden, rechtfertigt die begehrte Zulassung der Revision nicht.
a) Haben Steuerpflichtige ―wie im Streitfall die Kläger― in ihren vorbereitenden Schriftsätzen Beweisanträge gestellt und verhandeln sie anschließend ―fachkundig vertreten― in der mündlichen Verhandlung vor dem FG zur Sache, ohne die begehrte Beweisaufnahme ausdrücklich zu beantragen, wertet die Rechtsprechung diesen Umstand regelmäßig als nach § 155 FGO i.V.m. § 295 der Zivilprozessordnung (ZPO) beachtlichen Verzicht auf die Sachaufklärungsrüge, wenn Hindernisse für eine solche Rüge nicht dargelegt werden (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs ―BFH― vom 20. April 1989 IV R 299/83, BFHE 157, 106, BStBl II 1989, 727; sowie BFH-Beschlüsse vom 18. März 2004 VII B 53/03, BFH/NV 2004, 978; vom 25. Januar 2008 X B 90/07, BFH/NV 2008, 610; vom 29. Februar 2008 IV B 21/07, BFH/NV 2008, 974; vom 28. November 2008 VIII B 218/07, Zeitschrift für Steuern und Recht 2009, R 239). Denn für einen solchen ausdrücklichen Beweisantrag muss der fachkundig vertretene Steuerpflichtige schon dann regelmäßig einen Anlass sehen, wenn das Gericht entgegen den schriftsätzlich gestellten Beweisanträgen keine Zeugen geladen und damit zu erkennen gegeben hat, eine Zeugenvernehmung nicht durchführen zu wollen (BFH-Beschluss vom 28. Juli 2008 VIII B 189/07, juris, m.w.N.).
b) Allerdings scheitert eine Aufklärungsrüge dann nicht am Fehlen eines förmlichen Beweisantrags in der mündlichen Verhandlung, wenn das nach dem Untersuchungsgrundsatz gemäß § 76 FGO grundsätzlich zur Ermittlung des Sachverhalts verpflichtete Gericht auch ohne einen solchen Beweisantrag Anlass zur (weiteren) Sachaufklärung gehabt hätte (vgl. BFH-Beschlüsse vom 20. Dezember 2005 VII B 254/05, BFH/NV 2006, 832; vom 4. Oktober 2006 X B 54/06, juris; vom 24. Juli 2008 VIII B 181/07, BFH/NV 2008, 2007; Urteile des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Mai 1980 8 C 33.79, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung ―VwGO― Nr. 126 S. 30; vom 7. November 1986 8 C 27.85, Buchholz 310 § 86 Abs. 1 VwGO Nr. 181 S. 47; vom 7. April 1989 8 C 79/88, Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht-Rechtsprechungsreport 1990, 87).
c) Nach diesen Grundsätzen liegt im Streitfall kein Verfahrensfehler gemäß des § 76 Abs. 1 FGO vor, weil sich dem FG eine ―von den fachkundig vertretenen Klägern in der mündlichen Verhandlung nicht beantragte― Beweisaufnahme über die streitige Zustellung der angefochtenen Bescheide nicht im Sinne der Entscheidungen in BFH/NV 2006, 832 sowie in BFH/NV 2008, 2007 aufdrängen musste.
Vielmehr durfte das FG aufgrund der Zustellungsurkunde von der Zustellung des angefochtenen Steuerbescheids ausgehen.
aa) Nach § 182 Abs. 1 Satz 2 ZPO gilt für die Zustellungsurkunde § 418 ZPO; danach begründet sie als öffentliche Urkunde den vollen Beweis der in ihr bezeugten Tatsachen.
Ein Gegenbeweis kann nach § 418 Abs. 2 ZPO nur durch den Beweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen geführt werden. Dafür genügt nicht die bloße Behauptung, das betreffende Schriftstück nicht erhalten zu haben. Denn für die Wirksamkeit der Zustellung kommt es nach ständiger Rechtsprechung nicht darauf an, ob und wann der Adressat das Schriftstück seinem Briefkasten entnommen und ob er es tatsächlich zur Kenntnis genommen hat (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH‐Beschlüsse vom 14. November 1977 VIII B 52/77, BFHE 124, 5, BStBl II 1978, 156; vom 5. Januar 1990 III S 7/89, BFH/NV 1991, 322; vom 15. März 2001 X B 101/00, BFH/NV 2001, 1361 sowie BFH-Urteil vom 2. Juni 1987 VII R 36/84, BFH/NV 1988, 170, jeweils m.w.N.).
Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der in der Zustellungsurkunde bezeugten Tatsachen erfordert deshalb den Beweis eines anderen als des beurkundeten Geschehensablaufs, der damit ein Fehlverhalten des Zustellers und eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde belegt (ständige Rechtsprechung, BFH-Urteil vom 8. Februar 1999 VIII R 61/98, BFH/NV 1999, 961; BFH-Beschlüsse vom 3. Mai 2001 III R 27/00, nicht veröffentlicht, juris; vom 27. Januar 1988 VII B 165/87, BFH/NV 1988, 790; vom 17. Dezember 1996 IX R 5/96, BFHE 183, 3, BStBl II 1997, 638). Gefordert wird der volle Gegenbeweis in der Weise, dass die Beweiswirkung der Zustellungsurkunde vollständig entkräftet und jede Möglichkeit der Richtigkeit der in ihr bezeugten Tatsachen ausgeschlossen wird (vgl. Urteil des Bundesgerichtshofs vom 7. Juni 1990 III ZR 216/89, Neue Juristische Wochenschrift 1990, 2125; BFH-Urteil vom 28. September 1993 II R 34/92, BFH/NV 1994, 291).
Dieser Gegenbeweis ist zwar erbracht, wenn nach dem Ergebnis einer Beweisaufnahme über die Tatsachenbehauptungen des Zustellungsempfängers, wonach der Zustellungsvorgang falsch beurkundet worden sei, diesen Behauptungen bei der Beweiswürdigung mehr Glauben zu schenken ist als der Zustellungsurkunde (BFH-Beschluss vom 31. August 2000 VII B 181/00, BFH/NV 2001, 318). Andererseits reicht es für den Gegenbeweis nicht aus, wenn das Ergebnis einer Beweisaufnahme lediglich Zweifel an der Richtigkeit der Zustellungsurkunde begründet.
bb) Auf dieser Grundlage musste der Sachvortrag der Kläger über ihre Zweifel an der Richtigkeit der Zustellungsurkunde dem FG eine Beweisaufnahme nicht aufdrängen. Denn der Vortrag der Kläger, am Zustellungsort seien im Zeitpunkt der in der Zustellungsurkunde dokumentierten Zustellung empfangsbereite Personen anwesend gewesen, hätten aber ein Klingeln der Zustellerin an der Eingangstür nicht gehört, ist ebenso wie der Vortrag, die zugestellte Postsendung sei an dem streitigen Zustellungstag nicht im Briefkasten des Empfängers aufgefunden worden, für sich genommen nicht geeignet, die Beweiswirkung der Zustellungsurkunde zu entkräften. Diese Tatsachen ―ihre Feststellbarkeit im Wege der Beweisaufnahme angenommen― lassen nämlich nicht den sicheren Schluss zu, dass sich der Zustellvorgang in Wahrheit anders als in der Zustellungsurkunde dargestellt zugetragen hat und dass die Zustellerin somit eine Falschbeurkundung in der Zustellungsurkunde vorgenommen hat (vgl. BFH-Beschluss vom 10. November 2003 VII B 366/02, BFH/NV 2004, 509).
cc) Weitere Tatsachen, die für eine solche Falschbeurkundung sprechen könnten und deshalb zum Gegenstand einer Beweisaufnahme hätten gemacht werden können, haben die Kläger nicht bezeichnet, so dass sich eine solche Beweisaufnahme für das FG nach Maßgabe der Entscheidung in BFH/NV 2004, 509 nicht aufdrängen musste. Eine Pflicht des Gerichts, auf die Anforderungen an einen Gegenbeweis nach den Grundsätzen dieser Entscheidung hinzuweisen, bestand angesichts der Vertretung durch einen rechtskundigen Prozessbevollmächtigten nicht.
Fundstellen