Leitsatz (amtlich)
Erfahrungssätze bieten dem Richter nur ein Mittel zur rechtlichen Einordnung von Tatsachen. Sie können – auch was die der Rückstellung für Beitragsrückerstattung in der Lebensversicherung zugewiesenen Beträge betrifft – die Feststellung der Tatsachen nicht ersetzen.
Normenkette
FGO §§ 96, 118 Abs. 2; GewStG § 8 Nr. 1, § 12 Abs. 2 Nr. 1
Tatbestand
Streitig ist nur noch, ob die vom Revisionskläger (dem Steuerpflichtigen), einem Versicherungsverein, in den Erhebungszeiträumen 1958 bis 1963 gebildete Rückstellung für Beitragsrückerstattung als Dauerschuld und die für sie aufgewendeten Zinsen als Dauerschuldzinsen anzusehen sind. Der Revisionsbeklagte (das Finanzamt – FA –) hat diese Frage – im Gegensatz zum Steuerpflichtigen – bejaht, weil die die Rückstellungsbeträge deckenden Gegenwerte an den jeweiligen Bewertungsstichtagen nicht ähnlichen Verfügungsbeschränkungen unterlegen hätten wie das Deckungsstockvermögen (Urteile des Bundesfinanzhofs – BFH – I 177/58 U vom 28. April 1960, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs Bd. 71 S. 168 – BFH 71, 168 –, BStBl III 1960, 311; I 3/62 U vom 4. April 1963, BFH 76, 723, BStBl III 1963, 264). Denn wenn auch die im Deckungsstockverzeichnis geführten Vermögenswerte, über die der Steuerpflichtige nur mit Zustimmung des Treuhänders habe verfügen können, zur Bedeckung auch der Rückstellung für Beitragsrückerstattung ausgereicht hätten, so habe es doch formell an einer entsprechenden geschäftsplanmäßigen Erklärung gefehlt. Eine solche Erklärung sei erst während der am 30. November 1964 begonnenen Betriebsprüfung gefertigt und vom Bundesaufsichtsamt für das Versicherungs- und Bausparwesen (BAV) mit Schreiben vom 17. Dezember 1964 genehmigt worden.
Einspruch und Klage des Steuerpflichtigen blieben insoweit ohne Erfolg. Gegen die in den Entscheidungen der Finanzgerichte 1969 S. 421 veröffentlichte Entscheidung des Finanzgerichts (FG) richtet sich die form- und fristgerecht eingelegte Revision des Steuerpflichtigen, zu deren Begründung er vortragen läßt:
Die Rückstellung für Beitragsrückerstattung gehöre, wenn sie auch keine versicherungstechnische Rücklage im eigentlichen Sinne sei (so das im Fall des BFH-Urteils I 177/58 U, a. a. O., zitierte Reichsaufsichtsamt für Privatversicherung), dennoch ihrem Wesen nach nicht zu jenen Verbindlichkeiten, die Dauerschulden sein könnten, weil sie auf einer typischen laufenden Schuld des Versicherers beruhe.
Die Rückstellung für Beitragsrückerstattung beruhe auf einer Summe vertraglicher Verpflichtungen des Versicherers gegenüber dem Versicherungsnehmer, die ihrerseits aus einer Vielzahl von Verpflichtungen resultiere, die in den laufenden Verträgen des Versicherers mit den Versicherungsnehmern begründet seien. Diese hier summierten Verpflichtungen stünden mithin in Zusammenhang mit einzelnen, nach Art des Betriebes ständig wiederkehrenden bestimmbaren Geschäftsvorfällen, die als Dauerschuld so lange nicht behandelt werden könnten, als die ihnen zugrunde liegenden Ansprüche sich in der Abwicklung befänden. Alles, was am Bilanzstichtag zugesagt gewesen sei und infolgedessen einen klagbaren Anspruch ausgelöst habe, gehöre zum laufenden Geschäftsverkehr. Es könne deshalb für diese Verpflichtung nichts anderes gelten als für die Erfüllung einer Schadensverpflichtung (BFH-Urteil I 278/63 vom 12. Juni 1968, BFH 93, 154, BStBl II 1968, 715).
Die Abwicklung vollziehe sich auch hier insoweit in einem branchenüblichen Rhythmus, der wirtschaftlich und technisch bedingt sei. Die Auffassung des FG, daß die Rückstellung für Beitragsrückerstattung schon deshalb keine „geborene Nichtdauerschuld” sei, weil sie „erfahrungsgemäß” infolge der Laufzeit der ihr zugrunde liegenden Verpflichtungen „in der Regel” mehr als 12 Monate vorhanden sei, gehe fehl. Eine den BFH nach § 118 Abs. 2 FGO bindende tatsächliche Feststellung habe das FG in dieser Richtung nicht getroffen. Tatsächlich entfielen die am Bilanzstichtag in dieser Rückstellung zusammengefaßten Beträge auf (a) Todesfall- und Auslaufleistungen, die wegen Fehlens von Unterlagen noch nicht zur Auszahlung hätten gelangen können, die indes überwiegend innerhalb der nächsten sechs Monate abgewickelt würden und (b) Schlußgewinnanteile, die dem Versicherungsnehmer mit Beginn des dem Bilanzstichtag folgenden letzten Versicherungsjahres zuständen und innerhalb von 12 Monaten nach dem Bilanzstichtag zur Auszahlung kämen; soweit sie (c) auf Rückerstattungen entfielen, die aufgrund des im Zusammenhang mit der Feststellung der Vorjahresbilanz gefaßten Gewinnverteilungsbeschlusses vorzunehmen seien, würden Gutschrift oder Verrechnung zwar nur zum Teil innerhalb der nächsten, auf den Bilanzstichtag folgenden 12 Monate durchgeführt, stellten sie aber am Bilanzstichtag keine langfristige Verpflichtung mehr dar; nur soweit sie auf Gewinnanteile für Versicherungsjahre entfielen, die erst 12 Monate nach dem Bilanzstichtag begönnen, erfolge die Abwicklung in keinem Falle vor Ablauf von 12 Monaten nach dem Bilanzstichtag. Demgemäß kämen auch im Streitfall statt der vom FG erfaßten Beträge nur die in der Anlage zum Schriftsatz vom 18. Mai 1971 ausgewiesenen Beträge als Dauerschulden in Betracht.
Darauf, daß der Gegenwert der in Rückstellung gestellten Beträge den gleichen Verfügungsbeschränkungen wie das Deckungsstockvermögen unterworfen sei, komme es somit grundsätzlich nicht an. Indes sei auch das BFH-Urteil I 293/61 vom 21. Juli 1966 (BFH 89, 279, BStBl III 1967, 631) auf den vorliegenden Streitfall insofern anwendbar, als der Deckungsstock (als das Ergebnis abgeschlossener oder durchgeführter Verträge) das Betriebskapital des Unternehmens nicht verstärke. Sondere das Unternehmen Vermögenswerte in entsprechender Anwendung der Vorschrift des § 66 Abs. 5 des Versicherungsgesetzes (VAG) als Gegenposten der Rückstellung ab, sei kein Grund ersichtlich, das Urteil hier nicht anzuwenden. Tatsächlich seien seit der Gründung des Steuerpflichtigen die Gegenwerte für die Rückstellung für Beitragsrückerstattung ebenso wie die Gegenwerte für die ihr wirtschaftlich gleichgeachteten gutgeschriebenen Gewinnanteile im Deckungsstockverzeichnis geführt worden, wodurch sie der besonderen Aufsicht des Treuhänders unterworfen seien. Auch habe das FG es unterlassen zu prüfen, ob möglicherweise eine besondere geschäftsplanmäßige Erklärung deshalb nicht erfolgt sei, weil das seinerzeit zuständige Landesaufsichtsamt die Deckungsstockpflicht von vornherein bejaht habe.
Der Steuerpflichtige beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG.
1. Wie das FG zutreffend dargelegt hat, können die Ausführungen des erkennenden Senats zur gewerbesteuerrechtlichen Behandlung der Schadensrückstellung in der Sachversicherung (BFH-Urteil I 278/63, a. a. O.) auf die Rückstellung für Beitragsrückerstattung in der Lebensversicherung grundsätzlich nicht übertragen werden. Die vom Schadensversicherer in seiner Bilanz ausgewiesene Schadensrückstellung ist die Summe einer Reihe von Einzelrückstellungen für Verpflichtungen des Versicherers aus den bis zum Bilanzstichtag eingetretenen, indes noch nicht abgewickelten Schadensfällen. Die vom Lebensversicherer in seiner Bilanz ausgewiesene Rückstellung für Beitragsrückerstattung ist zwar ebenfalls die Summe einer Reihe von Einzelrückstellungen für Verpflichtungen des Versicherers, indes teils aus am Bilanzstichtag bereits eingetretenen, aber noch nicht abgewickelten Versicherungsfällen, teils aus am Bilanzstichtag noch laufenden und deshalb noch nicht im Abwicklungsstadium befindlichen Versicherungsverträgen.
Wie der erkennende Senat bereits im Urteil I 177/58 U (a. a. O.) dargelegt hat, trägt die Rückstellung für Beitragsrückerstattung rechtlich gesehen einer am Bilanzstichtag jedenfalls dem Grund nach bereits bestehenden Verpflichtung Rechnung. Sie dient der Ansammlung nicht ausgeschütteter Gewinne, „um dann aus dieser Rückstellung nach Maßgabe von Gewinnverteilungssystemen die Überschußanteile an die Versicherten auszukehren” (Prölss-v. d. Thüsen, Die versicherungstechnischen Rückstellungen im Steuerrecht, 2. Aufl., 1954 S. 20); ihr Bilanzausweis ergibt sich aus § 56 a VAG. Daraus folgt, daß die Rückstellung für Beitragsrückerstattung in der Regel einer Verpflichtung aus solchen Versicherungsverträgen Rechnung trägt, die sich am Bilanzstichtag noch nicht in der Abwicklung befinden und deren Erfüllung auch nicht innerhalb der nächsten zwölf Monate, vom Bilanzstichtag ab gerechnet, erfolgt oder zu erwarten ist. Das schließt indes nicht aus, daß gleichwohl der Rückstellung zugewiesene Beträge auf Versicherungsverträge Bezug haben, die sich bereits in der Abwicklung befinden.
Das BFH-Urteil I 278/63 (a. a. O.) kann mithin – bei voller Aufrechterhaltung seiner Ausführungen – hier nicht Anwendung finden, sowohl was seine allgemeine Aussage zum Charakter der Dauerschuld als auch was seine besondere Aussage zur Schadensrückstellung in der Sachversicherung betrifft.
2. Wie bereits im BFH-Urteil I 177/58 U (a. a. O.) ausgeführt, ist die Rückstellung für Beitragsrückerstattung den Dauerschulden zuzurechnen, „soweit im übrigen die Voraussetzungen hierfür (langfristige Verpflichtung) erfüllt sind”. Ob und inwieweit diese Voraussetzungen im Streitfall erfüllt sind, hat das FG nicht näher untersucht, obwohl der Steuerpflichtige bereits vor dem FG darauf hingewiesen hatte, daß die der Rückstellung zugewiesenen Beträge seiner Ansicht nach – generell oder doch im vorliegenden Streitfall – „geborene Nichtdauerschulden” seien. Das FG ist dem mit dem Argument begegnet, daß die der Rückstellung zugrunde liegenden Verpflichtungen „erfahrungsgemäß” in der Regel mehr als 12 Monate vorhanden seien.
Erfahrungssätze bieten dem Richter nur ein Mittel zur rechtlichen Einordnung von Tatsachen. Sie können mithin die (zuvor erfolgte) Bestellung von Tatsachen nicht ersetzen. Das FG wird deshalb diese Feststellung nachzuholen haben.
Soweit am Bilanzstichtag in der Rückstellung für Beitragsrückerstattung des Steuerpflichtigen Beträge enthalten sind, die auf Todesfall- und Auslaufleistungen sowie auf Schlußgewinnanteile entfallen, ist es denkbar, daß die Auszahlung innerhalb von 12 Monaten nach dem Bilanzstichtag erfolgt. Dasselbe gilt, soweit Rückstellungsbeträge mit fälligen Beitragszahlungen innerhalb von 12 Monaten nach dem Bilanzstichtag verrechnet werden. Soweit dagegen die in der Rückstellung enthaltenen Beträge nicht unmittelbar dem Versicherungsnehmer zugute kommen, sondern dem Steuerpflichtigen trotz Gutschrift auf dem Konto „verzinslich angesammelte Gewinnanteile der Versicherten” tatsächlich länger als 12 Monate verbleiben, kommt es für die Beurteilung als Dauerschulden nicht darauf an, daß sie – nach dem Vortrag des Steuerpflichtigen – am Bilanzstichtag infolge „Abwicklung” keine langfristige Verpflichtung mehr darstellen. Denn da der Versicherungsnehmer dem Steuerpflichtigen die ihm von diesem geschuldeten Gewinnanteile beläßt, damit dieser sie für ihn bis zum Ablauf des Versicherungsvertrages verzinslich ansammele, kann der damit als langfristige Verbindlichkeit ausgewiesene Betrag nur dann nicht als Dauerschuld beurteilt werden, wenn die Gegenwerte entweder kraft Gesetzes, Geschäftsplan oder geschäftsplanmäßiger Erklärung dem Deckungsstock zugehören oder nach Geschäftsplan oder geschäftsplanmäßiger Erklärung ähnlichen Beschränkungen unterliegen wie die Bestände des Deckungsstocks (BFH-Urteil I 3/62 U, a. a. O.).
3. Auch dem Urteil des erkennenden Senats I 293/61 (a. a. O.) über die gewerbesteuerrechtliche Behandlung der Bardepots der Lebensversicherer im Falle der Rückversicherung kann nichts Gegenteiliges entnommen werden. Denn entscheidend für die Beurteilung der Rückstellung für Beitragsrückerstattung als Dauerschuld – die tatsächliche Feststellung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Bejahung des Dauerschuldcharakters der der Rückstellung im Einzelfalle zugewiesenen Beträge unterstellt – ist, ob die ihrer Bedeckung dienenden Gegenwerte nach Gesetz, Geschäftsplan oder geschäftsplanmäßiger Erklärung dem gebundenen, gewerbesteuerrechtlich als „Sondervermögen” behandelten Deckungsstockvermögen zugehören (so bereits das BFH-Urteil I 177/58 U, a. a. O.).
a) Dem Steuerpflichtigen kann nicht darin gefolgt werden, daß es – angesichts ihres nur deklaratorischen Charakters – nicht auf das Vorliegen einer solchen Erklärung ankommen könne, wenn die Rückstellung für Beitragsrückerstattung tatsächlich durch eine Überdeckung des Deckungsstockvermögens bedeckt sei. Wie der Steuerpflichtige vor dem FG selbst vorgetragen hat, ist die Einhaltung einer geschäftsplanmäßigen Erklärung durch den Versicherer seitens des Versicherungsnehmers nicht erzwingbar. Um so größer ist daher die Bedeutung einer solchen Erklärung für den Versicherungsnehmer vom versicherungsaufsichtlichen Standpunkt aus. Denn ohne das Vorliegen einer solchen Erklärung kann auch das BAV – gegebenenfalls auf Anregung des Versicherungsnehmers – den Versicherer zu einer der Erklärung entsprechenden Geschäftsführung nicht anhalten (siehe Prölss, Versicherungsaufsichtsgesetz, 5. Aufl., Anm. 6 zu § 65).
Was die Bildung des Deckungsstocks betrifft, so ist es Sache des Versicherers, die Verpflichtung, die Gegenwerte für die Rückstellung für Beitragsrückerstattung deckungsstockmäßig zu binden, im Geschäftsplan oder in einer geschäftsplanmäßigen Erklärung zu begründen, was im Streitfall – wie das FG in tatsächlicher Hinsicht unwidersprochen festgestellt hat – für die hier streitigen Geschäftsjahre nicht geschehen ist. Absprachen mit dem Treuhänder vermögen eine solche Selbstbindung nicht zu ersetzen, da der Treuhänder zwar die Einhaltung der Vermögensbindung überwacht (§§ 70 ff. VAG), indes weder für ihre Begründung zuständig noch mitwirkungspflichtig ist noch den Versicherer auf die Einhaltung einer solchen Vermögensbindung hin überwachen kann, wenn es an einer gesetzlichen oder geschäftsplanmäßigen Verpflichtung zur Vermögensbindung fehlt. Deshalb war auch die Verfügungsbefugnis des Steuerpflichtigen über das Deckungsstockvermögen ohne Zustimmung des Treuhänders insoweit nicht ausgeschlossen, als eine Überdeckung vorlag, hinsichtlich derer keine Vermögensbindung nach Geschäftsplan oder geschäftsplanmäßiger Erklärung festgestellt werden konnte. Deshalb reicht auch das tatsächliche Vorliegen einer Überdeckung der durch den Deckungsstock abgedeckten Verpflichtungen, aus der eine Abdeckung aus der Rückstellung für Beitragsrückerstattung möglich gewesen wäre, nicht aus.
b) Was die Möglichkeit betrifft, daß es im Streitfall angesichts der praktischen Handhabung nur deshalb an einer geschäftsplanmäßigen Erklärung des Steuerpflichtigen gefehlt habe, weil das Landesaufsichtsamt als die seinerzeit zuständig gewesene Zulassungsbehörde die Deckungsstockpflicht möglicherweise von vornherein bejaht habe, war es Sache des Steuerpflichtigen, dem FG die Gesichtspunkte darzulegen, die eine solche Schlußfolgerung hätten rechtfertigen können. Dem FG kann insoweit ein Vorwurf nicht gemacht werden, wenn es dem Steuerpflichtigen in dieser seiner Überlegung nicht gefolgt ist.
Fundstellen
Haufe-Index 514585 |
BFHE 1971, 512 |