Entscheidungsstichwort (Thema)
Fortgeltung des § 3 Nr. 63 EStG nach dem Beitritt der ehemaligen DDR
Leitsatz (NV)
Die Fortgeltung des § 3 Nr. 63 EStG nach dem Beitritt der ehemaligen DDR bis zum 31. Dezember 1990 war mit dem Grundgesetz vereinbar.
Normenkette
EStG § 3 Nr. 63, § 42; Einigungsvertrag Anl. I Kap. IV Sachgebiet B Abschn. II Nr. 14 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 16 Buchst. c bb, Buchst. j aa
Tatbestand
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte in der Zeit vom 1. bis zum 31. Januar des Streitjahres 1990 Einkünfte aus einer nichtselbständigen Tätigkeit, die er im damaligen Berlin (West) ausübte. Der Bruttolohn betrug ca. 1800 DM, die einbehaltene Lohnsteuer ca. 200 DM. In der Zeit vom 20. August bis 31. Dezember 1990 hatte er aus einer nichtselbständigen Tätigkeit im Landkreis ... (Beitrittsgebiet) einen Bruttoarbeitlohn von ca. 9600 DM, von dem ca. 1000 DM Lohnsteuer einbehalten wurden.
In seinem Antrag auf Lohnsteuer-Jahresausgleich beantragte er, die im Beitrittsgebiet erzielten Einkünfte einzubeziehen und auch die dort einbehaltene Lohnsteuer anzurechnen.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) lehnte dies ab und setzte den Erstattungsanspruch in Höhe der in Berlin (West) einbehaltenen Lohnsteuer fest. Der Einspruch und die Klage hatten keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) führte aus: Entgegen der Ansicht des Klägers habe die Vorschrift des § 3 Nr. 63 des Einkommensteuergesetzes (EStG) noch während des gesamten Veranlagungszeitraumes 1990 in der Bundesrepublik Deutschland (Bundesrepublik) einschließlich Berlin (West) gegolten. Nach den im Einigungsvertrag getroffenen Regelungen sei § 3 Nr. 63 EStG erst mit Wirkung vom Veranlagungszeitraum 1991 an aufgehoben worden. Deshalb habe das FA die vom Kläger im Beitrittsgebiet bezogenen Einkünfte zu Recht außer Ansatz gelassen. Die entsprechenden Regelungen des Einigungsvertrages seien auch nicht verfassungswidrig.
Der Kläger macht mit seiner Revision geltend, er könne der vom FG vorgenommenen Auslegung des Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) nicht folgen. Der Gesetzgeber habe die Grenzen seiner Gestaltungsfreiheit mit der Folge überschritten, daß eine willkürliche Ungleichbehandlung einer bestimmten Personengruppe erfolgt sei. Steuertechnische Erwägungen könnten die Fortgeltung des § 3 Nr. 63 EStG nicht rechtfertigen. Bei der äußerst geringen Zahl der durch diese Norm Betroffenen scheide eine reale Mehrbelastung der Finanzverwaltung aus. Mit der Revision werde ferner eine Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG gerügt. Die Nichteinbeziehung der im Beitrittsgebiet erzielten Einkünfte habe einen negativen Regelungseffekt dahin erzielt, daß die Ausübung derartiger beruflicher Tätigkeiten behindert würde. Art. 14 GG werde dann berührt, wenn der Betroffene übermäßig in seinen Vermögensverhältnissen beeinträchtigt werde.
Außerdem habe sein gesamtes Einkommen weniger als 11000 DM betragen. Damit sei auch das Sozialstaatsprinzip betroffen, aus dem folge, daß das Existenzminimum nicht unterschritten werden dürfe. Es habe sich entgegen der Auffassung des FG bei der Zeit vom 2. Oktober bis zum 31. Dezember 1990 auch nicht um einen relativ kurzen Übergangszeitraum gehandelt. Alle vom FG zitierten Urteile der Bezirksgerichte beträfen den Lohnsteuer-Jahresausgleich von Bürgern, die im Beitrittsgebiet ihren Wohnsitz gehabt hätten.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist unbegründet. Die Vorinstanz hat zu Recht entschieden, daß im Rahmen des für den Kläger gemäß § 42 EStG durchzuführenden Lohnsteuer-Jahresausgleichs für das Streitjahr 1990 diejenigen Einkünfte gemäß § 3 Nr. 63 EStG außer Ansatz zu lassen waren, die der Kläger durch seine im Beitrittsgebiet ausgeübte nichtselbständige Tätigkeit erzielt hat.
1. Das FG hat seine Auffassung, § 3 Nr. 63 EStG habe in der Bundesrepublik einschließlich Berlin (West) auch nach dem Wirksamwerden des Beitritts der neuen Bundesländer am 3. Oktober 1990 bis zum Ablauf des Veranlagungszeitraumes 1990 fortgegolten, aus den Regelungen abgeleitet, die in der Anl. I Kap. IV Sachgebiet B Abschn. II Nr. 14 Abs. 1 Nr. 1 sowie Nr. 16 Buchst. c bb) i.V.m. Buchst. j aa) des Einigungsvertrages (BStBl I 1990, 656, 669f.) getroffen worden sind. Diese Ansicht der Vorinstanz ist frei von Rechtsfehlern. Auch die Revision macht nicht geltend, daß die Vorinstanz den Einigungsvertrag, der durch das Einigungsvertragsgesetz vom 23. September 1990 (BGBl II 1990, 885) in nationales Recht umgesetzt worden ist, insoweit unzutreffend ausgelegt habe. Sie ist lediglich der Meinung, daß die im Einigungsvertrag getroffene Regelung verfassungswidrig sei.
2. Dem FG ist darin beizupflichten, daß die Fortgeltung des § 3 Nr. 63 EStG bis zum Ablauf des Veranlagungszeitraumes 1990 entgegen der Auffassung des Klägers nicht verfassungswidrig war.
a) Wie der Kläger und das FG zutreffend dargelegt haben, tritt aufgrund der im Einigungsvertrag getroffenen Regelungen für die Zeit vom Beitritt (3. Oktober 1990) bis zum Ablauf des Veranlagungszeitraums 1990 eine Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer der Bundesrepublik insofern ein, als Einkünfte, die im Beitrittsgebiet bezogen worden sind, vom Lohnsteuer-Jahresausgleich ausgeschlossen bleiben.
Bei der Entscheidung, ob Ungleichbehandlungen aus verfassungsrechtlicher Sicht hinzunehmen sind, ergeben sich nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - (Beschluß vom 26. Januar 1993 1 BvL 38/92, 1 BvL 40/92, 1 BvL 43/92, Neue juristische Wochenschrift - NJW - 1993, 1517) aus dem allgemeinen Gleichheitssatz je nach Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmalen unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die vom bloßen Willkürverbot bis zu einer strengen Bindung an Verhältnismäßigkeitserfordernisse reichen. Wegen des im Zusammenhang mit dem Beitritt der neuen Bundesländer aufgetretenen großen gesetzlichen Regelungsbedarfs für die unterschiedlichsten Sachgebiete war dem Gesetzgeber nach Auffassung des Senats für die zu treffenden Übergangsregelungen ein relativ weiter Gestaltungsspielraum jedenfalls dann einzuräumen, wenn gleichzeitig die Übergangszeit knapp bemessen wurde.
Dementsprechend hat der Senat mit Urteil vom 5. März 1993 VI R 37/92 entschieden, daß die Vorschriften des Einigungsvertrages, nach denen das Einkommensteuerrecht der alten Bundesrepublik erst ab dem 1. Januar 1991 in den neuen Bundesländern gilt, rechtswirksam und verfassungskonform sind. Danach ist es verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, daß für Arbeitnehmer mit Wohnsitz im Beitrittsgebiet für das Jahr 1990 nach der Verordnung über die Besteuerung des Arbeitseinkommens vom 22. Dezember 1952 - AStVO - (Gesetzblatt - DDR - Nr. 182, 1413) kein Lohnsteuer-Jahresausgleich durchzuführen und die Steuer vom Arbeitseinkommen nach § 27 AStVO durch den Steuerabzug von den Lohneinkünften abgegolten war.
Der Senat hält an der Ansicht fest, daß die durch die Fortgeltung des Rechts der ehemaligen DDR eintretende unterschiedliche Behandlung der Bürger in den alten und neuen Bundesländern durch zureichende sachliche Gründe gerechtfertigt war. Denn dadurch sollten Steuerbürger, Wirtschaft und die im Aufbau befindliche Finanzverwaltung im beigetretenen Teil Deutschlands nicht mit einer zusätzlichen Umstellung des Besteuerungsrechts innerhalb des 2. Halbjahres 1990 belastet werden (vgl. BTDrucks. 11/7817, S. 107f.). Dabei ist auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen worden. Denn eine Umstellung der Besteuerung nur für die letzten drei Monate eines Jahres hätte sich wegen des damit verbundenen zusätzlichen Aufwandes an Zeit und Kosten als unverhältnismäßig und praktisch kaum durchführbar erwiesen. Wegen der praktischen Schwierigkeiten, die mit der Umstellung auf ein anderes Steuersystem verbunden sind, hat es auch das BVerfG nicht beanstandet, daß im Beitrittsgebiet das im EStG geregelte Lohnsteuerabzugsverfahren erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 1991 eingeführt worden ist (vgl. Beschluß vom 19. Dezember 1991 2 BvR 1591/90, Steuerrechtsprechung in Karteiform, Einkommensteuergesetz 1990, Allg. Rechtsspruch 100).
b) Nachdem sich der Gesetzgeber im Rahmen des ihm verfassungsrechtlich zustehenden Gestaltungsspielraumes für die Fortgeltung des Einkommensteuerrechts der ehemaligen DDR im Beitrittsgebiet bis zum Jahresende entschieden hatte, war es folgerichtig und sachgerecht, für die Bürger mit Wohnsitz in den alten Bundesländern für diese Übergangszeit weiterhin diejenigen Vorschriften in Kraft zu lassen, die die steuerliche Behandlung derjenigen Einkünfte regelten, die sie im Gebiet der ehemaligen DDR (Beitrittsgebiet) bezogen haben. Denn andernfalls, d.h. bei einer Aufhebung des § 3 Nr. 63 EStG mit Wirkung ab dem Beitritt, hätte sich die Gefahr von Unstimmigkeiten ergeben, deren Beseitigung wiederum einen weiteren Regelungsbedarf hätte hervorrufen können.
Außerdem wären andere Ungleichbehandlungen aufgetreten. Nach § 3 Nr. 63 EStG in der im Streitjahr 1990 gültigen Fassung blieben die Einkünfte der in § 49 EStG bezeichneten Art steuerfrei, wenn sie in der DDR oder in Berlin (Ost) bezogen und dort zu einer der inländischen Einkommensteuer entsprechenden Steuer tatsächlich herangezogen worden sind. Dadurch sollte eine doppelte Erfassung dieser Einkünfte einerseits in der DDR und andererseits in der Bundesrepublik vermieden werden. Der Kläger wurde durch die Fortgeltung des § 3 Nr. 63 EStG hinsichtlich seiner Einkünfte, die er aus seiner im Beitrittsgebiet ausgeübten nichtselbständigen Tätigkeit bezogen hat, mit den Bürgern im Beitrittsgebiet, die dort auch ihre Einkünfte erzielt haben, gleichbehandelt. Es wurde für ihn ebenso wie für die Arbeitnehmer, die ihren Wohnsitz im Beitrittsgebiet hatten, ein Steuerabzug vom Lohn ohne die Möglichkeit des Lohnsteuer-Jahresausgleichs vorgenommen. Hätte der Gesetzgeber statt dessen zwar - wie geschehen - für die Bürger im Beitrittsgebiet die Fortgeltung des DDR-Rechts angeordnet, aber anstelle der tatsächlich getroffenen Regelung § 3 Nr. 63 EStG mit sofortiger Wirkung aufgehoben, so hätte dies ebenfalls zu einer Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern innerhalb der Bundesrepublik geführt. Denn dann wären die im Beitrittsgebiet bezogenen Einkünfte unterschiedlich behandelt worden, und zwar in Abhängigkeit davon, wo ihr Bezieher seinen Wohnsitz hat. In einer solchen Situation mußte es dem Gesetzgeber im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums freistehen, auch für die Bürger mit Wohnsitz in den alten Bundesländern für die knapp bemessene Übergangszeit von drei Monaten an der bisherigen Rechtslage festzuhalten.
3. Die Rüge des Klägers, seine Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 und Art. 14 Abs. 1 GG seien durch die Übergangsregelung verletzt, ist so offensichtlich unbegründet, daß dies keiner weiteren Auseinandersetzung bedarf. Daß der Kläger aufgrund der im Beitrittsgebiet einbehaltenen und nicht zu erstattenden Steuer, die im übrigen nur teilweise auf die Zeit nach dem Beitritt der neuen Bundesländer entfiel, zu einer menschenwürdigen Lebensführung (vgl. Art. 1, Art. 79 Abs. 3 GG) in Berlin (West) nicht mehr in der Lage gewesen wäre, hat die Vorinstanz nicht festgestellt.
Fundstellen
Haufe-Index 419343 |
BFH/NV 1994, 97 |