Entscheidungsstichwort (Thema)
Irrtumsanfechtung einer Beitragsentrichtung (hier: freiwillige Beiträge während eines später als Ausfallzeit anzurechnenden Studiums)
Orientierungssatz
1. Zu Unrecht entrichtet sind Beiträge, die nicht in dieser Weise als Pflichtbeiträge, als freiwilliger Beitrag oder als Höherversicherungsbeitrag entrichtet werden durften, oder die nicht in der Höhe oder zu der gewählten Zeit entrichtet werden durften. Nachversicherungsbeiträge auch dann, wenn eine Aufschubentscheidung der zuständigen Stelle nachträglich erfolgt (vgl BSG vom 1973-02-14 1 RA 241/72 = BSGE 35, 195).
2. Zur Irrtumsanfechtung nach BGB § 119 im Recht der Beitragsentrichtung.
3. Bei einem Irrtum über die mögliche künftige Rechtsentwicklung handelt es sich immer um einen unbeachtlichen Motivirrtum (vgl BSG 1979-06-19 5 RJ 128/78 = RV 1979, 216).
Normenkette
SGB 4 § 26 Fassung: 1976-12-23; AVG § 146 Fassung: 1957-02-23; RVO § 1424 Fassung: 1957-02-23; AVG § 32 Abs 7 S 2 Fassung: 1965-06-09; RVO § 1255 Abs 7 S 2 Fassung: 1965-06-09; AVG § 32 Abs 7 S 2 Fassung: 1971-12-22; RVO § 1255 Abs 7 S 2 Fassung: 1971-12-22; AVG § 37a Fassung: 1965-06-09; RVO § 1260a Fassung: 1965-06-09; BGB § 119 Fassung: 1896-08-18
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 30.10.1979; Aktenzeichen L 12 An 67/79) |
SG Berlin (Entscheidung vom 12.03.1979; Aktenzeichen S 11 An 2068/77) |
Tatbestand
Die 1936 geborene Klägerin war in den Jahren 1952 bis 1971 pflichtversichert. Ab Oktober 1971 entrichtete sie freiwillige Beiträge, auch für die Zeit ab Aufnahme eines Studiums im April 1975.
Mit Schreiben vom 20. November 1975 teilte die Klägerin der Beklagten mit, sie habe erst jetzt erfahren, daß bei der Ermittlung der maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage die für eine anzurechnende Ausfallzeit entrichteten Beiträge unberücksichtigt blieben. Sie fechte die Beitragszahlung wegen Irrtums an, da sie freiwillige Beiträge und keine Höherversicherungsbeiträge habe zahlen wollen. Zugleich beantragte sie die Rückzahlung der für die Zeit von April bis September 1975 gezahlten Beiträge in Höhe von je 288,-- DM (insgesamt 1.728,-- DM). Die Beklagte lehnte die Beitragsrückzahlung ab (Bescheid vom 5. Januar 1976, Widerspruchsbescheid vom 11. August 1977). Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Berlin vom 12. März 1979; Urteil des Landessozialgerichts -LSG- Berlin vom 30. Oktober 1979). Das LSG hat zur Begründung ausgeführt, der Tatbestand des § 146 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) sei nicht erfüllt, da die Klägerin die strittigen Beiträge nicht zu Unrecht entrichtet habe. Insbesondere habe die Klägerin die Beitragsentrichtung nicht wirksam angefochten. Ob § 119 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) im öffentlichen Recht uneingeschränkt anwendbar sei, könne dahingestellt bleiben, denn es fehle der Anfechtungsgrund. Die Klägerin habe sich über die wesentlichen Rechtsfragen der Beitragsentrichtung nicht geirrt. Wesentliche Rechtsfolge der Beitragsentrichtung sei die Berücksichtigung der Beitragszeit als Versicherungszeit. Die Art und Weise der Anrechnung im Versicherungsfall sei dagegen für die Beitragsentrichtung nicht wesentlich im Rechtssinne. Das beruhe darauf, daß es dem Prinzip der Solidargemeinschaft der Versicherten entspreche, Leistungen und Beiträge nicht für alle Zeiten unveränderlich festzuschreiben, sondern die konkrete Ausgestaltung den jeweiligen Bedürfnissen und Möglichkeiten anzupassen. Aus der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers folge, daß die Einzelheiten der Rentenberechnung, die sich grundsätzlich aus § 32 AVG ergäben, nicht den Kern der Beitragsentrichtung berührten. Es sei daher nicht zu prüfen, ob einer Rückforderung der Beiträge nicht der Umstand entgegenstehe, daß bisher das Studium nicht abgeschlossen sei und bis zum Eintritt des Versicherungsfalles ungeklärt bleibe, ob die Voraussetzungen des § 36 Abs 3 AVG (sogenannte Halbdeckung) erfüllt seien.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin Verletzung der §§ 146 AVG und 119 BGB. Die streitigen Beiträge seien zu Unrecht entrichtet, weil die Beitragsentrichtung nach § 119 Abs 1 BGB wirksam angefochten sei. Die vom LSG vorgenommene Trennung zwischen dem Kern der Beitragsentrichtung und Einzelzeiten der Rentenberechnung sei künstlich. Die Berücksichtigung bei der Ermittlung der Rentenbemessungsgrundlage sei eine wesentliche Rechtsfolge. Die Möglichkeiten des Gesetzgebers, das System der Sozialversicherung umzugestalten, lasse die Irrtumsanfechtung unberührt; für sie komme es nur auf die tatsächliche Rechtslage und die Vorstellungen des Anfechtenden bei Abgabe der Erklärung an. Wolle man hinsichtlich der Anrechnung der Ausfallzeit erst den Versicherungsfall abwarten, dann wäre eine unverzügliche Anfechtung nie möglich bzw wäre der Erstattungsanspruch verjährt.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung der vorinstanzlichen
Urteile und der Bescheide zu verurteilen, die für
April bis September 1975 entrichteten freiwilligen
Beiträge zurückzuzahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin war zurückzuweisen. Die Voraussetzungen eines Erstattungsanspruchs sind nicht erfüllt, weil die strittigen Beiträge nicht zu Unrecht entrichtet wurden.
Da die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Erstattung rechtmäßiger Beiträge unzweifelhaft nicht erfüllt sind, kommt ein Erstattungsanspruch nur in Betracht, wenn die Beiträge zu Unrecht entrichtet wurden. Diese Voraussetzung ist in § 146 AVG in der bis zum 1. Juli 1977 geltenden Fassung (vgl Art II §§ 2 Nr 1 Buchst a, 21 Abs 1 Sozialgesetzbuch -SGB 4-) in gleicher Weise wie in § 26 SGB 4 in der ab dem 1. Juli 1977 geltenden Fassung genannt. Damit kann offenbleiben, ob § 26 SGB 4 Erstattungsansprüche, über die am 1. Juli 1977 noch nicht abschließend entschieden war, auch dann erfaßt, wenn sie - wie im vorliegenden Fall - vor dem 1. Juli 1977 entstanden sind (vgl hierzu BSG SozR 2200 § 1424 Nr 7; Urteil vom 13. Juli 1978 - 8/3 RK 37/77 - und Urteil vom 28. Mai 1980 - 5 RKn 21/79 -).
Zu Unrecht entrichtet sind Beiträge, die nicht in dieser Weise als Pflichtbeiträge, als freiwilliger Beitrag oder als Höherversicherungsbeitrag entrichtet werden durften, oder die nicht in der Höhe oder zu der gewählten Zeit entrichtet werden durften, Nachversicherungsbeiträge auch dann, wenn eine Aufschubentscheidung der zuständigen Stelle nachträglich erfolgt (vgl BSGE 35, 195). Hätte die Klägerin tatsächlich Höherversicherungsbeiträge entrichtet, wie sie nunmehr meint, so wären diese zu Unrecht entrichtet, da für den gleichen Zeitraum keine Grundbeiträge entrichtet waren; tatsächlich hat die Klägerin aber freiwillige Beiträge entrichtet. Daß diese bei der Rentenberechnung unter bestimmten Voraussetzungen, wenn nämlich die Klägerin ihr Studium abschließt und im Versicherungsfall die Voraussetzungen für eine Anrechnung dieses Studiums als Ausfallzeit vorliegen, gemäß §32 Abs 7 Satz 2 AVG (= § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO) iVm § 37a AVG (= § 1260a RVO), jeweils in der Fassung des Rentenversicherungsänderungsgesetzes vom 9. Juni 1965 (BGBl I, 476) und des Gesetzes vom 22. Dezember 1971 (BGBl I, 2110), bei der Rentenberechnung letztlich wie Beiträge zur Höherversicherung zu behandeln sind (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung vgl BSG SozR Nr 1 zu § 1260a RVO; SozR 2200 § 1255 Nrn 6 und 8 sowie den Beschluß des 1. Senats vom 12. Juli 1979 - 1 S 5/79 -), ändert nicht deren Rechtsnatur. Für die Frage, ob diese Beiträge zu Recht entrichtet wurden oder aber gegebenenfalls beanstandet werden können, bleibt die für freiwillige Beiträge zur Grundversicherung geltende Regelung des § 10 AVG maßgebend. Nach dieser Vorschrift war die Klägerin unzweifelhaft zur Entrichtung der Beiträge berechtigt, da der Ausfallzeittatbestand eine Beitragsentrichtung nicht ausschließt. Das wird von der Revision auch nicht angezweifelt.
Die Revision meint vielmehr, die Beiträge seien deshalb zu Unrecht entrichtet, weil die Klägerin ihre der Beitragsentrichtung zugrunde liegende Willenserklärung wirksam wegen Irrtums angefochten habe. Insoweit bedarf die Rechtsfrage, ob im öffentlichen Recht die Grundsätze der Irrtumsanfechtung nach § 119 BGB entsprechend angewandt werden können, insbesondere im Recht der Beitragsentrichtung, keiner abschließenden Entscheidung (bisher verneint für Willenserklärungen der Verwaltung in Form von Verwaltungsakten in BSGE 7, 275; 11, 226; aber bejaht für bestimmte Erklärungen des Versicherten in BSGE 37, 257, 260; 46, 279, 282 sowie in BSG DRV 1972, 410 und 1979, 339). Insoweit ist zu bedenken, ob nicht Willenserklärungen im Verwaltungsverfahren ähnlich wie Willenserklärungen im Sozialgerichtsprozeß der Irrtumsanfechtung entzogen sind, im Sonderfall der Beitragsentrichtung auch deshalb, weil der Gesetzgeber die Folgen irrtümlicher Beitragsentrichtung in § 144 AVG (= § 1422 RVO) besonders geregelt hat, weil auch sonst in der Vergangenheit abgeschlossen zurückliegende Versicherungsverhältnisse im Hinblick auf eine geordnete Rechnungsführung der Versicherungsträger nicht nachträglich rückwirkend umgestaltet werden dürfen (vgl hierzu BSGE 24, 45, 48 mwN; 26, 120, 123; SozR Nr 4 zu § 1403 RVO und Urteil vom 28. Mai 1980 - 5 RKn 21/79 -), und schließlich, weil die Rechtsprechung einen Verzicht des Versicherten auf einzelne (sich nachteilig bei der Rentenberechnung auswirkende) Beiträge nicht zugelassen hat (vgl BSG SozR Nr 6 zu § 1255 RVO).
Diese Bedenken können hier indessen auf sich beruhen. Denn selbst bei einer entsprechenden Anwendung von § 119 BGB könnten deren Voraussetzungen im vorliegenden Fall nicht bejaht werden. Insoweit kann unerörtert bleiben, ob ein Irrtum nicht schon deshalb zu verneinen ist, weil der Klägerin eine positive Vorstellung, wie das Zusammentreffen von Ausfallzeit und Beitragsentrichtung geregelt sein könnte, fehlte. Zweifelhaft erscheint dabei auch, ob die Klägerin "bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Falles" (§ 119 Abs 1 BGB) die Beiträge nicht entrichtet hätte, da insoweit bei verständiger Würdigung nicht das augenblicklich geltende, sondern das im Zeitpunkt des Versicherungsfalles künftig geltende Recht maßgebend ist. Jedenfalls müßte eine Irrtumsanfechtung im vorliegenden Fall schon daran scheitern, daß die Klägerin sich nicht über den Inhalt ihrer Erklärung, sondern nur über rechtliche Nebenfolgen geirrt hat. Nach zivilrechtlichen Grundsätzen kann zwar auch ein Rechtsirrtum ein beachtlicher Inhaltsirrtum iS des § 119 BGB sein, wenn er die das Wesen des Geschäfts bestimmenden rechtlichen Wirkungen (essentialia negotii), zB gewollt: Kauf, erklärt: Miete, oder andere wesentliche Wirkungen des Geschäfts betrifft (vgl Heinrichs in Palandt BGB, 39. Aufl, § 119 Anm 3b). Über den Charakter des Geschäfts hat sich die Klägerin nicht geirrt. Sie hat insbesondere nicht Höherversicherungsbeiträge entrichtet, aber Grundbeiträge der freiwilligen Versicherung entrichten wollen. Wenn der Versicherungsfall vor Abschluß des Studiums eingetreten wäre, dann wären diese Beiträge als Grundbeiträge zur freiwilligen Versicherung sowohl hinsichtlich des Rechts zur Entrichtung als auch hinsichtlich der Auswirkung auf die persönliche Bemessungsgrundlage zu beurteilen gewesen. Soweit § 32 Abs 7 Satz 2 AVG (= § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO) sowohl idF des Gesetzes vom 9. Juni 1965 als auch idF des Gesetzes vom 22. Dezember 1971 vorschreibt, daß diese Beiträge beim Zusammentreffen mit einer anzurechnenden Ausfallzeit bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage unberücksichtigt zu lassen und wie Höherversicherungsbeiträge zu behandeln sind, ist dies eine Eigenart, die auf alle freiwilligen Beiträge zutrifft. Insoweit handelt es sich nicht um eine wesentliche Rechtsfolge.
Im Rahmen der hier allenfalls in Betracht kommenden entsprechenden Anwendung des § 119 BGB ist bei der Abgrenzung der wesentlichen Rechtsfolgen von bloßen Nebenfolgen zu berücksichtigen, daß die mit dem einzelnen Beitrag erworbene Rentenanwartschaft nach dem Prinzip der Solidargemeinschaft der Versicherten nicht für alle Zeiten unveränderlich festgeschrieben ist, sondern die konkrete Ausgestaltung den jeweiligen Bedürfnissen und Möglichkeiten angepaßt werden kann, so daß der Gesetzgeber die gesetzlich vorgesehenen Leistungen aus sozialpolitischen und finanziellen Erwägungen jedenfalls mit Wirkung für die Zukunft auch einschränken kann (vgl BVerfGE 11, 221, 226; 40, 65, 77 und Beschluß vom 13. Juli 1978 - 1 BvR 1211/77 -). In diesem Sinne gehört die Regelung des Zusammentreffens von freiwilligen Beitragszeiten mit Ausfallzeiten zu der dem Gesetzgeber offenstehenden konkreten Ausgestaltung. Bei einem Irrtum über die insoweit immer mögliche künftige Rechtsentwicklung handelt es sich immer um einen unbeachtlichen Motivirrtum (BSG Urteil vom 26. September 1972 - 11 RA 232/71 - und vom 19. Juni 1979 - 5 RJ 128/78 -). Das legt es nahe, auch dann einen unbeachtlichen Irrtum anzunehmen, wenn sich der Versicherte nicht (nahezu unvermeidbar) über die zukünftige Rechtsentwicklung, sondern (an sich vermeidbar) über die augenblicklich geltende konkrete Ausgestaltung des Versicherungsverhältnisses geirrt hat. Ob deswegen im wesentlichen der Raum der konkreten Ausgestaltung mit den Nebenfolgen iS des § 119 BGB gleichzusetzen ist, und welche Rechtsfolgen der Beitragsentrichtung als wesentlich zu bezeichnen sind, bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung. Insoweit erscheint zwar die Ansicht des LSG bedenklich, nur die Anrechnung auf die Wartezeit als wesentliche Rechtsfolge einer Beitragsentrichtung anzusehen, zumal wenn der Versicherte bei der Beitragsentrichtung die Wartezeit bereits erfüllt hat. Denn bei der hier streitigen Regelung handelt es sich schon deshalb nur um eine Nebenfolge, weil diese im Vergleich mit der Gesamtzahl der entrichteten Sozialversicherungsbeiträge nur für wenige Beiträge, die mit einer anzurechnenden Ausfallzeit zusammentreffen, anzuwenden ist. Eine derartige Sonderregelung bleibt Nebenfolge, auch wenn sie im Einzelfall von praktischer Bedeutung sein sollte, was im Falle der Klägerin nicht einmal feststeht, wie das LSG zu Recht hervorgehoben hat.
Ein Herstellungsanspruch (vgl BSG Urteil vom 24. April 1980 - 1 RA 33/79 -, zur Veröffentlichung vorgesehen, mwN), hier auf Beitragserstattung, käme nur bei einer fehlerhaften Beratung der Klägerin durch den Versicherungsträger in Betracht. Einen solchen Sachverhalt hat das SG und ihm folgend das LSG nicht feststellen können, ohne daß die Revision insoweit Angriffe erhoben hätte.
Die Revision war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Fundstellen