Entscheidungsstichwort (Thema)
Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch bei der Rüge von Verfahrensmängeln
Leitsatz (amtlich)
1. Die gesetzwidrige Besetzung eines Finanzgerichts ist ein Verfahrensmangel im Sinne des § 288 Ziff. 2 AO, der im finanzgerichtlichen Verfahren mit der Rechtsbeschwerde anfechtbar ist.
2. Dem Erfordernis der Erschöpfung des Rechtswegs im Sinne des § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG ist nicht genügt, wenn ein Verfahrensmangel im Instanzenzug deshalb nicht nachgeprüft werden konnte, weil er nicht oder nicht in ordentlicher Form gerügt war.
Normenkette
BVerfGG § 90 Abs. 2 S. 1; AO § 288 Ziff. 2
Verfahrensgang
BFH (Urteil vom 02.08.1962; Aktenzeichen IV 348/60) |
Gründe
I.
Die Beschwerdeführerin betreibt ein Zirkusunternehmen. Für die Veranlagungszeiträume II/1948 und 1949 hatte sie in ihren Steuererklärungen jeweils einen Verlust angegeben. Eine im Jahre 1955 von der Steuerfahndung durchgeführte Betriebsprüfung ermittelte jedoch für die betreffenden Zeiträume einen gewerblichen Gewinn. Die Beschwerdeführerin wurde daraufhin durch Berichtigungsbescheide zu erheblichen Nachzahlungen an Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuer aufgefordert. Dagegen wandte sie im finanzgerichtlichen Verfahren u.a. ein, die Steueransprüche seien verjährt. Über diesen Einwand entschied das Finanzgericht Düsseldorf – VII. Kammer (Köln) – durch drei Zwischenurteile. Es stellte fest, daß die Verjährung nicht eingetreten sei. Der Bundesfinanzhof wies die gegen diese Urteile eingelegten Rechtsbeschwerden als unbegründet zurück. Die Beschwerdeführerin hatte die Verletzung materiellen Rechts und mangelnde Sachaufklärung durch das Finanzgericht gerügt. Die Rüge der ordnungswidrigen Besetzung des Finanzgerichts hatte sie nicht vorgebracht.
Mit der rechtzeitig gegen die Urteile des Bundesfinanzhofs eingelegten Verfassungsbeschwerde macht die Beschwerdeführerin geltend:
- Art. 101 Abs. 1 GG sei verletzt, weil die VII. Kammer des Finanzgerichts Düsseldorf neben dem Vorsitzenden mit mehreren Berufsrichtern als beisitzenden Richtern besetzt sei. Im einzelnen Fall entscheide sie in der Besetzung mit dem Vorsitzenden, dem von ihm nach seinem Ermessen zum Berichterstatter bestimmten Berufsrichter sowie drei ehrenamtlichen Beisitzern. Die Überbesetzung des Spruchkörpers lasse daher dem Vorsitzenden in unzulässiger Weise die Wahl, welcher der seiner Kammer zugeteilten Berufsrichter für die Entscheidung herangezogen werden solle. Außerdem sei die VII. Kammer des Finanzgerichts Düsseldorf im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidungen auch hinsichtlich ihrer ehrenamtlichen Beisitzer falsch besetzt gewesen.
- Es verletze die Menschenwürde im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG, wenn die Finanzverwaltung eine Betriebsprüfung durch die Steuerfahndung durchführen lasse. Darin komme eine Diskriminierung gegenüber anderen Steuerpflichtigen zum Ausdruck (Art. 3 Abs. 1 GG).
- Art. 2 Abs. 1 GG sei verletzt, weil die Tätigkeit der Steuerfahndung der gesetzlichen Grundlage entbehre; die von ihr vorgenommene Betriebsprüfung sei somit nichtig und könne keine Rechtswirkungen zuungunsten der Beschwerdeführerin entfalten.
- Ein Verstoß gegen Art. 13 GG sei darin zu sehen, daß die Beamten der Steuerfahndungsstelle die Geschäftsräume der Beschwerdeführerin gegen deren Willen betreten hätten.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist teils unzulässig, teils offensichtlich unbegründet.
1. Die Rüge, die Beschwerdeführerin sei ihrem gesetzlichen Richter entzogen, ist unzulässig, da der gegen diesen Verfassungsverstoß zulässige Rechtsweg nicht beschritten und erschöpft worden ist.
Die gesetzwidrige Besetzung der erkennenden Kammer des Finanzgerichts ist ein wesentlicher Verfahrensmangel im Sinne des § 288 Ziff. 2 AO. Er ist im finanzgerichtlichen Verfahren mit der Rechtsbeschwerde anfechtbar. Gemäß § 296 Abs. 2 Satz 1 AO kann dieser Verfahrensfehler vom Bundesfinanzhof aber nur dann geprüft werden, wenn er in der Form des § 290 Abs. 1 AO gerügt wird. Die gesetzwidrige Besetzung des Gerichts ist nicht etwa ein unheilbarer Mangel im Verfahren des Finanzgerichts, der nach Art eines Verfahrenshindernisses von Amts wegen zu beachten wäre (vgl. auch BGH-Urteil vom 23. Juli 1953 – 2 StR 784/52 –, zitiert bei Dallinger, MDR 1953, 724).
Wer einen solchen, mit einem Rechtsmittel angreifbaren Verfahrensmangel rügen will, muß ihn, auch wenn es sich um einen Verfassungsverstoß handelt, zunächst nach den bestehenden Verfahrensvorschriften geltend machen, um den Rechtsweg zu erschöpfen (§ 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG). Diese Regelung soll im Interesse der Entlastung des Bundesverfassungsgerichts eine möglichst umfassende Vorprüfung der Beschwerdepunkte durch die zuständigen Instanzen gewährleisten (BVerfGE 4, 193 [198]). Dem Erfordernis der Erschöpfung des Rechtswegs ist daher dann nicht genügt, wenn ein Verfahrensmangel im Instanzenzug deshalb nicht nachgeprüft werden konnte, weil er nicht oder nicht in ordentlicher Form gerügt war. Nach § 90 Abs. 2 Satz 2 kann das Bundesverfassungsgericht zwar ausnahmsweise unter bestimmten Voraussetzungen über eine vor Erschöpfung des Rechtswegs eingelegte Verfassungsbeschwerde entscheiden. Es kann aber nicht über eine nach abgeschlossenem Instanzenzug eingelegte Verfassungsbeschwerde sachlich entscheiden, wenn die mit ihr gerügte Verletzung in den vorangegangenen Rechtszügen nicht geltend gemacht war, obwohl sie dort nach den einschlägigen Verfahrensvorschriften hätte geltend gemacht werden müssen.
Die Beschwerdeführerin hätte also im vorliegenden Fall die Rüge der ordnungswidrigen Besetzung des Finanzgerichts schon mit der Rechtsbeschwerde gegen die finanzgerichtlichen Urteile erheben müssen. Indem sie das unterließ, hat sie eine Nachprüfung des behaupteten Fehlers durch den Bundesfinanzhof unmöglich gemacht. Sie hat sich damit der Möglichkeit begeben, diesen Verstoß als Grundrechtsverletzung mit der Verfassungsbeschwerde in zulässiger Weise zu rügen.
2. Die Rüge der Verletzung der Menschenwürde ist so abwegig, daß sie einer besonderen Widerlegung nicht bedarf. Auch Art. 3 Abs. 1 GG ist offensichtlich nicht verletzt. Es steht im pflichtgemäßen Ermessen der Finanzverwaltung, die Steuerpflichtigen auszuwählen, bei denen sie eine außerordentliche Betriebsprüfung durchführen will. Für das Vorliegen von Willkür bestehen keine Anhaltspunkte.
3. Unrichtig ist die Auffassung, die Tätigkeit der Organe der Steuerfahndung und ihre Inanspruchnahme durch die Finanzverwaltung entbehre der gesetzlichen Grundlage und sei daher von vornherein mit Art. 2 Abs. 1 GG unvereinbar. Nach § 22 Satz 2 des Gesetzes über die Finanzverwaltung vom 6. September 1950 (BGBl. S. 448) haben „die Beamten des Steuerfahndungsdienstes die Ermittlungsbefugnisse, die den Beamten der Finanzämter zustehen”.
4. Die Frage, ob das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Art. 13 GG durch Beamte der Steuerfahndung verletzt wurde, kann dahinstehen. Die angefochtenen finanzgerichtlichen Urteile verletzen dieses Grundrecht nicht, da es für die dort allein entschiedene Frage der Verjährung nicht darauf ankommt, ob die Fahndungsbeamten die Geschäftsräume der Beschwerdeführerin zu Recht betreten haben.
Fundstellen
BVerfGE, 124 |
NJW 1963, 1491 |