Entscheidungsstichwort (Thema)
Rechtliches Gehör auch bei Entscheidung über Wiedereinsetzung in den vorigen Stand
Leitsatz (amtlich)
Zum Anspruch auf rechtliches Gehör.
Leitsatz (redaktionell)
1. Das Recht auf Gehör vor Gericht ist ein Prozeßgrundrecht, das sicherstellen soll, daß die zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht. Deshalb verbietet es sich, daß ein Gericht einer Partei das rechtliche Gehör aus Gründen versagt, die im formellen oder materiellen Recht keine Stütze haben.
2. § 238 ZPO schreibt zwar nicht ausdrücklich vor, daß die Gegenpartei vor der Entscheidung über ein Wiedereinsetzungsgesuch zu hören ist. Eine solche Pflicht ergibt sich aber unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG, der jeder Partei das Recht gibt, sich vor Gericht zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu äußern.
Normenkette
GG Art. 103 Abs. 1; ZPO § 283 Fassung: 1976-12-03
Verfahrensgang
AG Nürnberg (Beschluss vom 16.12.1981; Aktenzeichen 11 C 7608/81) |
Tenor
1. Der Beschluß des Amtsgerichts Nürnberg vom 16. Dezember 1981 – 11 C 7608/81 – verletzt Artikel 103 Absatz 1 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht Nürnberg zurückverwiesen.
2. Der Freistaat Bayern hat der Beschwerdeführerin die notwendigen Auslagen zu erstatten.
Gründe
I.
1. a) Die Beschwerdeführerin hat gegen die Beklagte des Ausgangsverfahrens – als Gesamtschuldnerin mit ihrem Ehemann – einen Mahnbescheid und später einen Vollstreckungsbescheid über DM 1 196,06 nebst Zinsen und Nebenkosten für eine Heizöllieferung erwirkt. Beide Bescheide sind der Beklagten durch Niederlegung zugestellt worden, der Vollstreckungsbescheid am 26. August 1981.
Am 9. Dezember 1981 legte die Beklagte bei der Rechtsantragsstelle des Amtsgerichts Einspruch gegen den Vollstreckungsbescheid ein. Zugleich suchte sie um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist nach. An Eides Statt versicherte sie: Mahnbescheid und Vollstreckungsbescheid habe sie nie erhalten. Die Post werde durch einen Schlitz in der Wohnungstür geworfen. Ihre Kinder sortierten die sich auf dem Boden häufende Post nach Werbung und anderen Schriftstücken und würfen die Werbezettel gleich weg. Sie nehme an, daß die Kinder die schriftlichen Mitteilungen des Postboten über die Niederlegung der Bescheide mit Werbung verwechselt und deshalb vernichtet hätten. Von dem Vollstreckungsbescheid habe sie erstmals durch einen am Vortag (8. Dezember 1981) zugestellten Pfändungs- und Überweisungsbeschluß erfahren.
Gegen die Forderung der Beschwerdeführerin wandte die Beklagte ein, ihr Ehemann sei der alleinige Schuldner. Er habe das Heizöl allein bestellt und den Auftrag allein unterschrieben. An ihn sei auch die Rechnung gegangen.
Gleichzeitig beantragte die Beklagte die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung.
b) Ohne die Beschwerdeführerin zu hören, stellte das Amtsgericht am 16. Dezember 1981 die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung ein und gewährte der Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Einspruchsfrist. Der Beschluß ist nicht begründet.
In einer Gegenvorstellung gegen diese Entscheidung rügte die Beschwerdeführerin die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör. Sie bezweifelte die Angaben der Beklagten und trug unter anderem vor, der Gerichtsvollzieher habe am 27. Oktober 1981 aufgrund des Vollstreckungsbescheids erfolglos eine Pfändung in der Wohnung der Beklagten und ihres Ehemannes versucht. Aus einem gegen den Ehemann durchgeführten Strafverfahren ergebe sich, daß der Gerichtsvollzieher acht Zwangsvollstreckungsaufträge gegen den Ehemann durchgeführt habe; diesen Zwangsvollstreckungsmaßnahmen müsse eine Vielzahl von Zustellungen, vermutlich auch durch Niederlegung, vorausgegangen sein.
Der zuständige Richter teilte der Beschwerdeführerin auf die Gegenvorstellung unter anderem mit: Er habe von der Gewährung rechtlichen Gehörs vor Entscheidung über das Wiedereinsetzungsgesuch bewußt abgesehen. Die Beklagte habe an Eides Statt versichert, es sei gegen sie bereits ein Pfändungsbeschluß ergangen; damit habe die ernsthafte und unmittelbare Gefahr bestanden, die Beklagte werde einer ungerechtfertigten Vollstreckungsmaßnahme ausgesetzt. Ihr Schutzbedürfnis sei unter diesen Umständen höher zu bewerten gewesen als der Anspruch auf rechtliches Gehör. Es sei auch zweckmäßig gewesen, die Entscheidung über die Wiedereinsetzung sofort mit dem Beschluß über die Einstellung der Zwangsvollstreckung zu verbinden. Denn bereits bei der Entscheidung über den Einstellungsantrag habe mitgeprüft werden müssen, ob Wiedereinsetzung zu bewilligen sei; es sei nicht gerechtfertigt gewesen, zuerst die Vollstreckung einzustellen und dann – etwa nach mündlicher Verhandlung – dem Wiedereinsetzungsantrag nicht stattzugeben. Aufgrund der Angaben der Beklagten sei davon auszugehen gewesen, daß sie ohne ihr Verschulden gehindert gewesen sei, die Einspruchsfrist einzuhalten.
c) Das Amtsgericht hat den Rechtsstreit nach Anhörung der Parteien bis zur Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde ausgesetzt.
2. Die Beschwerdeführerin macht in der Verfassungsbeschwerde die Verletzung ihres Rechts aus Art. 103 Abs. 1 GG geltend. Sie bezieht sich auf BVerfGE 53, 109 und trägt vor, bei Gewährung rechtlichen Gehörs vor Erlaß des Wiedereinsetzungsbeschlusses hätte sie dem Gericht mitgeteilt, was sie in ihrer Gegenvorstellung vorgebracht habe.
3. Das Bayerische Staatsministerium der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde unter Hinweis auf BVerfGE 53, 109 für begründet. Nach seiner Auffassung war es nicht erforderlich, über den Antrag auf Einstellung der Zwangsvollstreckung und das Gesuch um Gewährung von Wiedereinsetzung gleichzeitig zu entscheiden.
Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hat sich nicht geäußert.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. Der Wiedereinsetzungsbeschluß des Amtsgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht aus Art. 103 Abs. 1 GG.
1. Das Recht auf Gehör vor Gericht hat hohen Rang. Es ist ein Prozeßgrundrecht, das sicherstellen soll, daß die zu treffende Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht (BVerfGE 53, 219 (222)). Deshalb verbietet es sich, daß ein Gericht einer Partei das rechtliche Gehör aus Gründen versagt, die im formellen oder materiellen Recht keine Stütze haben.
§ 238 ZPO schreibt zwar nicht ausdrücklich vor, daß die Gegenpartei vor der Entscheidung über ein Wiedereinsetzungsgesuch zu hören ist. Eine solche Pflicht ergibt sich aber unmittelbar aus Art. 103 Abs. 1 GG, der jeder Partei das Recht gibt, sich vor Gericht zu dem entscheidungserheblichen Sachverhalt zu äußern (BVerfGE 53, 109 (113 f.) m. w. N.).
Das Amtsgericht durfte von der Anhörung der Beschwerdeführerin nicht deshalb absehen, weil es der Ansicht war, schnell über die Einstellung der Zwangsvollstreckung befinden zu müssen. Zwischen einem Wiedereinsetzungsgesuch und einem Antrag auf einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung nach §§ 707, 719 ZPO besteht kein so enger Zusammenhang, daß über sie nur zusammen entschieden werden könnte. Die Wiedereinsetzung hängt von anderen Voraussetzungen ab als die Einstellung der Zwangsvollstreckung. Die Gewährung der Wiedereinsetzung ist endgültig, ein Beschluß über das Einstellen der Zwangsvollstreckung kann dagegen geändert werden.
2. Der Beschluß über die Wiedereinsetzung beruht auf dieser Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß das Amtsgericht über das Gesuch anders entschieden hätte, wenn es zuvor den Vortrag zur Kenntnis genommen hätte, den die Beschwerdeführerin infolge der Versagung des rechtlichen Gehörs erst mit der Gegenvorstellung unterbreiten konnte. Der Beschluß war deshalb aufzuheben und die Sache gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG zurückzuverweisen.
Der Ausspruch über die Kostenerstattung ergibt sich aus § 34 Abs. 4 BVerfGG.
Fundstellen