Rz. 65
Der in § 4 Abs. 1 AStG tatbestandliche Rechtsgrundverweis stellt darauf ob, ob bei einem Erblasser oder Schenker § 2 Abs. 1 S. 1 AStG "anzuwenden war". Es ist im Schrifttum umstritten, welche Anforderungen an das "Anzuwenden-sein" zu stellen sind. Einer Auffassung zufolge – die auch der Verwaltungsauffassung entspricht- soll es lediglich darauf ankommen, ob die Tatbestandsvoraussetzungen des § 2 Abs. 1 S. 1 AStG erfüllt sind. Nach einer anderen Auffassung muss dagegen § 2 Abs. 1 S. 1 AStG tatsächlich im Einzelfall angewendet werden. Nach letzterer Auffassung ist § 4 AStG nicht erfüllt, wenn z. B. die Freigrenze des § 2 Abs. 1 S. 3 AStG unterschritten wird oder wenn ein DBA die Anwendung des § 2 AStG sperrt.
Rz. 66
Die Lösung des Meinungsstreits liegt in der Bestimmung des Begriffsinhalts von "anzuwenden sein". Eine Norm ist nach hier vertretener Auffassung "anzuwenden", wenn sie aufgrund der Tatbestandserfüllung auch eine Rechtsfolge anordnet. Diese Rechtsfolge muss gleichwohl nicht immer auch eintreten. Es kann an relevanten Einkünften, die der Rechtsfolge einer Norm unterfallen, fehlen oder es kann eine Konkurrenz zweier Normen mit unterschiedlichen Rechtsfolgen bestehen, bei der die Rechtsfolge der einen Norm die andere verdrängt.
Rz. 67
Gemäß der Freigrenzenregelung des § 2 Abs. 1 S. 3 AStG "findet" § 2 Abs. 1 S. 1 AStG "nur Anwendung", wenn die Freigrenze überschritten wird. Wird die Freigrenze nicht überschritten, findet § 2 Abs. 1 S. 1 AStG folglich keine Anwendung. Es ist schwerlich mit diesem Wortlaut zu vereinbaren, in diesen Fällen § 2 Abs. 1 S. 1 AStG für Zwecke des § 4 AStG für "anzuwenden" zu halten, denn "Anwendung finden" und "anzuwenden sein" sind synonyme Begriffe. Selbst wenn der Gesetzgeber mit dem in § 4 Abs. 1 AStG enthaltenen Verweis auf § 2 Abs. 1 S. 1 AStG (und gerade nicht auf S. 3) bezweckte, § 4 AStG von der Freigrenze unabhängig zu machen, so kommt dieser Wille im Gesetzeswortlaut nicht hinreichend zum Ausdruck. Mit Haselmann ist daher § 4 AStG nicht anzuwenden, wenn auch § 2 AStG infolge der Freigrenze nicht anzuwenden ist. Dieses Ergebnis erscheint zwar in der Sache unangemessen, weil sich nicht erschließt, wieso die Freigrenzenregelung was aber im Kontext der unpräzise konzipierten Vorschrift hinzunehmen ist. Die hier vertretene Auffassung widerspricht der Verwaltungsauffassung.
Rz. 68
Einer anderen Regelungstechnik bedient sich der Gesetzgeber in § 2 Abs. 6 AStG. Nach dieser Vorschrift wird eine Steuer nach § 2 Abs. 1 AStG ganz oder teilweise nicht erhoben. Die Norm wirkt folglich auf Ebene der Steuererhebung, lässt dabei aber die Anwendung des § 2 Abs. 1 S. 1 AStG unberührt. Folglich liegt der Tatbestand des § 4 Abs. 1 AStG vor, wenn ein Anwendungsfall des § 2 Abs. 6 AStG gegeben ist.
Rz. 69
Sperrt dagegen ein DBA die Rechtsfolgen des § 2 AStG, steht dies – im Einklang mit der Verwaltungsauffassung- dessen Anwendung und somit der Tatbestandsverwirklichung des § 4 AStG nicht entgegen. DBA stehen regelmäßig mit steuerbegründenden Vorschriften des nationalen Rechts in Konkurrenz. Diese Konkurrenz wird durch den Anwendungsvorrang des § 2 Abs. 1 AO zugunsten der DBA gelöst. Wie der in § 2 Abs. 1 AO angeordnete Anwendungsvorrang impliziert, ist in diesen Fällen die nationale Norm grundsätzlich anzuwenden. Ein DBA schließt nicht die Anwendung einer Norm aus, sondern sperrt lediglich deren Rechtsfolgen, soweit ein Konflikt existiert. Für § 4 S. 1 AStG ergibt sich die Richtigkeit dieses Gedankens aus folgendem Umstand: Ist der Tatbestand des § 2 Abs. 1 S. 1 AStG erfüllt, kann zwar ein DBA der Erweiterung der Inlandseinkünfte entgegenstehen. Das DBA steht aber nach vorzugswürdiger Auffassung nicht der Anwendung des Progressionsvorbehalts gem. § 2 Abs. 5 S. 1 AStG entgegen (s. § 2 AStG Rz. 32). Auch letztere Norm setzt indes die "Anwendung" von Abs. 1 voraus.
Rz. 70
einstweilen frei