Der II. Senat des BFH hat jüngst den Begriff der "zwingenden Gründe" neu definiert und ist dabei von der bislang herrschenden Meinung abgewichen. Anlass der Neudefinition der "zwingenden Gründe" waren die Vorinstanzen des FG Münster (v. 10.12.2020 – 3 K 420/20 Erb, EFG 2021, 385 = ErbStB 2021, 71 [Heinrichshofen]) und FG Düsseldorf (v. 8.1.2020 – 4 K 3120/18 Erb, EFG 2021, 288 = ErbStB 2021, 41 [Heinrichshofen]), welche bereits im Vorfeld diskutiert wurden.
Der BFH hob beide Urteile auf und führt aus, dass der Erwerber aus "zwingenden Gründen" auch an einer Selbstnutzung zu eigenen Wohnzwecken gehindert sei, wenn der Haushalt an einem anderen Ort geführt werden könne. Entscheidend sei vielmehr, ob der Haushalt für den Erwerber im entspr. Familienheim objektiv unmöglich oder aus objektiven Gründen unzumutbar geworden sei (vgl. BFH v. 1.12.2021 – II R 18/20, ECLI:DE:BFH:2021:U.011221.IIR18.20.0, BStBl. II 2022, 554 Rz. 19 und 20 = ErbStB 2022, 255 [Heinrichshofen]). Obwohl der Gesetzeswortlaut voraussetze, dass "der Erwerber das Familienheim [...] nicht mehr zu Wohnzwecken selbst nutzt" und sich die Selbstnutzung somit nicht auf die Führung irgendeines Haushalts erstrecke, distanziert sich der BFH deutlich von der Auffassung des FG Münster v. 31.1.2013 (FG Münster v. 31.1.2013 – 3 K 1321/11 Erb, EFG 2013, 715 = ErbStB 2013, 140 [Kirschstein]) und v. 10.12.2020 (FG Münster v. 10.12.2020 – 3 K 420/20 Erb, EFG 2021, 385 = ErbStB 2021, 71 [Heinrichshofen]). Es wird deutlich, dass es auf das spezifische Familienheim ankommt und ob dort der Erwerber keinen eigenen Haushalt mehr führen kann.
Beraterhinweis Aus der Begründung des BFH ergibt sich, dass objektive Gründe vorliegen müssen und subjektive Gründe nicht entscheidend sind. Es reicht nicht aus, dass sich der Erwerber nur aufgrund persönlicher oder wirtschaftlicher Zweckmäßigkeitserwägungen an der Selbstnutzung gehindert fühlt (vgl. BFH v. 1.12.2021 – II R 18/20, ECLI:DE:BFH:2021:U.011221.IIR18.20.0, BStBl. II 2022, 554 Rz. 17 und 27 = ErbStB 2022, 255 [Heinrichshofen]). Liegen hingegen gesundheitliche Beeinträchtigungen vor, ist nach Auffassung des BFH im Einzelfall zu entscheiden, ob "zwingende Gründe" für die Beendigung der Selbstnutzung vorliegen (vgl. BFH v. 1.12.2021 – II R 18/20, ECLI:DE:BFH:2021:U.011221.IIR18.20.0, BStBl. II 2022, 554 Rz. 28 und 29 = ErbStB 2022, 255 [Heinrichshofen]; BFH v. 1.12.2021 – II R 1/21, BStBl. II 2022, 557 Rz. 22 = ErbStB 2022, 325 [Heinrichshofen]). Der Erwerber trägt dabei im Rahmen der Mitwirkungspflicht i.S.d. § 90 Abs. 1 AO die Feststellungslast, ob die Umstände die Selbstnutzung des Familienheims objektiv unmöglich machen oder objektiv unzumutbar erscheinen lassen (vgl. BFH v. 1.12.2021 – II R 1/21, BStBl. II 2022, 557 Rz. 23 = ErbStB 2022, 325 [Heinrichshofen]; BFH v. 6.5.2021 – II R 46/19, ECLI:DE:BFH:2021:U.060521.IIR46.19.0, BStBl. II 2022, 342 Rz. 19 = ErbStB 2022, 1 [Heinrichshofen]). Für die Praxis ist es daher erforderlich, dass der Erwerber vor der Beendigung der Selbstnutzung geeignete Nachweise (z.B. ärztliches Attest, Gutachten über den baulichen Zustand der Immobilie) beschafft und diese der Finanzverwaltung zeitnah nach Beendigung der Selbstnutzung vorlegt.