Entscheidungsstichwort (Thema)
Vorlage zur Vorabentscheidung. Mehrwertsteuer. Nationale Regelung, wonach die Verjährungsfrist für das Handeln der Steuerbehörde im Fall eines Gerichtsverfahrens zeitlich unbegrenzt gehemmt werden kann. Wiederholtes Steuerverfahren. Anwendungsbereich. Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts
Normenkette
EGRL 112/2006
Beteiligte
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága |
Verfahrensgang
Szegedi Törvényszék (Ungarn) (Beschluss vom 04.10.2021) |
Tenor
Die Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Mitgliedstaats und der mit ihr einhergehenden Verwaltungspraxis nicht entgegenstehen, wonach in Mehrwertsteuersachen die Frist, nach deren Ablauf das Recht der Steuerbehörde zur Festsetzung der Mehrwertsteuer verjährt, während der gesamten Dauer gerichtlicher Überprüfungen unabhängig davon, wie oft das Steuerverwaltungsverfahren infolge dieser Überprüfungen wiederholt werden musste, ohne zeitliche Begrenzung der Gesamtdauer dieser Fristhemmungen auch in dem Fall gehemmt ist, dass das Gericht, das über eine Entscheidung der betreffenden Steuerbehörde befindet, die im Rahmen eines wiederholten Verfahrens ergangen ist, um einer früheren Gerichtsentscheidung nachzukommen, feststellt, dass diese Steuerbehörde die in dieser Gerichtsentscheidung enthaltenen Vorgaben nicht beachtet hat.
Tatbestand
In der Rechtssache
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Szegedi Törvényszék (Stuhlgericht Szeged, Ungarn) mit Entscheidung vom 4. Oktober 2021, beim Gerichtshof eingegangen am 4. Oktober 2021, in dem Verfahren
Napfény-Toll Kft.
gegen
Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága
erlässt
DER GERICHTSHOF (Fünfte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten E. Regan (Berichterstatter), des Präsidenten des Gerichtshofs K. Lenaerts in Wahrnehmung der Aufgaben eines Richters der Fünften Kammer sowie der Richter D. Gratsias, M. Ilescaron;iˇ und I. Jarukaitis,
Generalanwalt: A. Rantos,
Kanzler: I. Illéssy, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 10. November 2022,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
- der Napfény-Toll Kft., vertreten durch L. Detvay, O. Kovács, P. Nagy und Gy. Tiborfi, Ügyvédek,
- der ungarischen Regierung, vertreten durch M. Z. Fehér und R. Kissné Berta als Bevollmächtigte,
- der spanischen Regierung, vertreten durch A. Ballesteros Panizo als Bevollmächtigten,
- der Europäischen Kommission, vertreten durch F. Blanc, J. Jokubauskaitė und M. A. Sipos als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 2. Februar 2023
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
Rz. 1
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Effektivität des Unionsrechts im Rahmen der Anwendung der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
Rz. 2
Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits, den die Napfény-Toll Kft. gegen die Nemzeti Adó- és Vámhivatal Fellebbviteli Igazgatósága (Rechtsbehelfsdirektion der nationalen Steuer- und Zollverwaltung, Ungarn) führt. Der Gegenstand dieses Rechtsstreits ist das Recht der Napfény-Toll Kft., vom Betrag der von ihr geschuldeten Mehrwertsteuer den Betrag der Mehrwertsteuer abzuziehen, der für verschiedene Erwerbe von Gegenständen geschuldet wird, die im Juni 2010 sowie zwischen November 2010 und September 2011 getätigt wurden.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2006/112
Rz. 3
Der achte Erwägungsgrund der Richtlinie 2006/112 lautet:
„In Durchführung des Beschlusses 2000/597/EG, Euratom des Rates vom 29. September 2000 über das System der Eigenmittel der Europäischen Gemeinschaften [(ABl. 2000, L 253, S. 42)] wird der Haushalt der Europäischen Gemeinschaften, unbeschadet der sonstigen Einnahmen, vollständig aus eigenen Mitteln der Gemeinschaften finanziert. Diese Mittel umfassen unter anderem Einnahmen aus der Mehrwertsteuer, die sich aus der Anwendung eines gemeinsamen Satzes auf eine Bemessungsgrundlage ergeben, die einheitlich nach Gemeinschaftsvorschriften bestimmt wird.”
Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95
Rz. 4
Art. 1 der Verordnung (EG, Euratom) Nr. 2988/95 des Rates vom 18. Dezember 1995 über den Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1995, L 312, S. 1) bestimmt:
„(1) Zum Schutz der finanziellen Interessen der Europäischen Gemeinschaften wird eine Rahmenregelung für einheitliche Kontrollen sowie für verwaltungsrechtliche Maßnahmen und Sanktionen bei Unregelmäßigkeiten in Bezug auf das Gemeinschaftsrecht getroffen.
(2) Der Tatbestand der Unregelmäßigkeit ist bei jedem Verstoß gegen eine Gemeinschaftsbestimmung als Folge einer Handlung oder Unterlassung eines Wirtschaftsteilnehmers gegeben, die einen Schaden für den Gesamthaushaltsplan der Gemeinschaften oder die Haush...