Entscheidungsstichwort (Thema)
Ermessensentscheidung hinsichtlich der Bekanntgabe von Verwaltungsakten bei Bestellung mehrerer Empfangsbevollmächtigter
Leitsatz (redaktionell)
1. Gibt das Finanzamt einen Verwaltungsakt dem Steuerpflichtigen bekannt, obwohl es ihn dem Bevollmächtigten hätte bekanntgeben müssen, ist die Bekanntgabe mit der Folge unwirksam, dass die Einspruchsfrist nicht zu laufen beginnt. Der Bekanntgabemangel wird erst durch Weiterleitung an den Empfangsbevollmächtigten geheilt.
2. Hat der Steuerpflichtige mehrere Empfangsbevollmächtigte bestellt, hat das Finanzamt bei der Frage, welchem Bevollmächtigten ein Verwaltungsakt bekanntzugeben ist, eine pflichtgemäße Ermessensentscheidung zu treffen, die im finanzgerichtlichen Verfahren nur eingeschränkt, nämlich auf Ermessensfehler, überprüfbar ist.
3. Das Finanzamt macht von dieser Ermessensermächtigung in einer nicht ihrem Zweck entsprechenden Weise Gebrauch, wenn es die Entscheidung über einen Erlassantrag, der von einem Bevollmächtigten unter Vorlage einer gegenständlich darauf begrenzten Empfangsvollmacht gestellt worden war, einem anderen Bevollmächtigten bekanntgibt.
Normenkette
AO § 355 Abs. 1 S. 1, § 122 Abs. 1 S. 4, § 5; FGO § 102
Tenor
Die Einspruchsentscheidung vom 30.8.2023 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens werden dem Beklagten auferlegt.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten in einer isolierten Anfechtungsklage über die Zulässigkeit eines Einspruchs sowie die Wiedereinsetzung in die Einspruchsfrist im Zusammenhang mit der Ablehnung eines Erlassantrags nach § 227 AO wegen Umsatzsteuer 2010 bis 2015.
Die Klägerin – eine im Handelsregister beim Amtsgericht C… zur Nummer HRB … registrierte Gesellschaft mit beschränkter Haftung, deren Unternehmensgegenstand im weiteren Sinne …dienstleistungen umfasste – wurde früher steuerlich beim Finanzamt B… geführt. Am 12.4.2011 übermittelte die D… GmbH dem Finanzamt B… per Telefax eine am 15.6.2010 unterschriebene Vollmacht zur Vertretung der Klägerin, die auszugsweise ausdrücklich wie folgt lautete:
„Hiermit bevollmächtige(n) ich/wir: […]
mich/uns in meinen Steuerangelegenheiten vor allen Finanzämtern, Steuer- und sonstigen Behörden sowie Finanzgerichten zu vertreten, Rechtsbehelfe/Rechtsmittel einzulegen und zurückzunehmen, Vergleiche abzuschließen und sonstige verbindliche Erklärungen abzugeben sowie zur Erteilung von Untervollmacht.
Im Festsetzungsverfahren sollen Steuerbescheide und alle sonstigen Verwaltungsakte einschließlich förmlicher Zustellungen sowie Urteile und gerichtliche Verfügungen ausschließlich dem Bevollmächtigten bekanntgegeben werden.
Die Empfangsvollmacht gilt auch für alle Schriftstücke im Erhebungsverfahren.”
Der Senat nimmt auf die Kopie der Vollmacht auf Bl. 23 der beigezogenen Rechtsbehelfsakte des Beklagten ausdrücklich Bezug.
Am 12.7.2012 ging beim Finanzamt B… per Telefax eine weitere Vollmacht vom 25.6.2012 zur unbeschränkten steuerlichen Vertretung der Klägerin, ausgestellt auf die E… PartG, ein. Auf Nachfrage des Finanzamts B… teilte die Klägerin diesem telefonisch mit, die Vollmacht betreffe nur das „Agio”. Für die restlichen Verfahren bleibe der allgemeine Steuerberater, also die D… GmbH nach allgemeiner Vollmacht, zuständig.
Für die Besteuerung der Klägerin wurde sodann der Beklagte zuständig.
Zwischen den Beteiligten entstand anschließend Streit im Festsetzungsverfahren zur Umsatzsteuer 2010 bis 2015 sowie steuerlichen Nebenleistungen zur Umsatzsteuer der Jahre 2010 bis 2015, in dessen Ergebnis Umsatzsteuer sowie Zinsen zur Umsatzsteuer in Höhe von insgesamt EUR 3.337.327,28 festgesetzt wurden. Diese Steuer- und Nebenleistungsschulden beglich die Klägerin.
Ein erster zum Erlass der Umsatzsteuer sowie dazugehöriger Zinsen für die Jahre 2010 bis 2012 gestellter Antrag der Klägerin beim Beklagten blieb ebenso wie der dagegen gerichtete Einspruch, das anschließende Klageverfahren beim hiesigen Finanzgericht (7 K 7208/19) und die Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesfinanzhof (BFH, Beschluss vom 9.11.2022, Az. V B 27/21) ohne Erfolg. In diesem ersten Erlassantragsverfahren wurde die Klägerin von der Rechtsanwaltskanzlei F… vertreten, die zusammen mit diesem ersten Erlassantrag die nachfolgende Vollmacht vom 16.7.2019 beim Beklagten einreichte:
„Hiermit erteilt” [die Klägerin]
„wegen USt 2010, 2011 und 2012
Vollmacht in allen angehenden, anhängigen und anhängig werdenden Steuerangelegenheiten in dem unter „wegen” genannten Mandat
- zur Wahrnehmung der steuerlichen, wirtschaftlichen und rechtlichen Interessen;
- zur Vertretung und Verteidigung vor allen Steuer- und anderen Behörden, Berufskammern und -verbänden und Teilnahme an Betriebsprüfungen, Steuerfahndungen durch die Finanzverwaltung mit der Berechtigung, rechtsverbindliche Erklärungen abzugeben und Verhandlungsergebnisse anerkennen zu dürfen;
- zur Prozessführung einschließlich der Befugnis zur Einlegung und Rücknahme von Rechtsbehelfen, Rechtsmitteln und Klagen, sowie Verzicht auf solche, Beseitigung eines Rechtsstreits durch Anerk...