Leitsatz
1. Ein Arbeitnehmer mit Wohnsitz in Deutschland und Arbeitsort in der Schweiz unterliegt nur dann nicht als Grenzgänger der deutschen Besteuerung, wenn er mehr als 60 Mal im Jahr nach getaner Arbeit aus beruflichen Gründen nicht an seinen Wohnort zurückkehrt. Dabei kommt es nicht darauf an, ob das Ende der Arbeitszeit oder der Zeitpunkt der Ankunft am Wohnort auf den Tag des Arbeitsantritts oder auf einen nachfolgenden Tag fällt (Abweichung vom Senatsurteil vom 16.5.2001, I R 100/00, BStBl II 2001, 633).
2. Das Erfordernis einer Rufbereitschaft ist ein beruflicher Grund für den Verbleib eines Arbeitnehmers in der Nähe seines Arbeitsorts.
3. Ein in Deutschland wohnhafter Arbeitnehmer trägt die Beweislast dafür, dass er mehr als 60 Mal im Jahr nach dem Arbeitsende aus beruflichen Gründen in der Schweiz geblieben ist.
Normenkette
Art. 15a Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 DBA-Schweiz
Sachverhalt
Die Kläger sind Eheleute, die in den Streitjahren (1996 und 1997) in Deutschland wohnten und zusammen zur ESt veranlagt wurden. Der Kläger war bei einer Schweizer AG – rund 60 km entfernt – nichtselbstständig tätig. Er hatte in der Schweiz ein Ein-Zimmer-Studio angemietet.
Der Streit mit dem FA drehte sich darum, ob der in der Schweiz erzielte Arbeitslohn in Deutschland steuerfrei war. Der Kläger bejahte dies. Er sei zusätzlich zum Pikettdienst (Bereitschaftsdienst) in 1996 an mindestens 65 Tagen und in 1997 an mindestens 93 Tagen so lange im Betrieb gewesen, dass er in der Schweiz habe übernachten müssen.
Entscheidung
Anders als das FG (EFG 2003, 1706), das auf Basis der bisherigen Rechtsprechung des BFH (s. dazu die Praxis-Hinweise) entschieden hatte, gab der BFH den Klägern in der Sache Recht, wenn auch vorbehaltlich einer weiteren Sachaufklärung durch das FG:
Zwar stellten diejenigen Tage, an denen der Kläger seine Tätigkeit tagesübergreifend verrichte, im Hinblick auf das Verhandlungsprotokoll fiktive "Rückkehrtage" dar.
Andererseits stellten diejenigen Tage, in denen der Kläger nach Beendigung seiner Tätigkeit im Hinblick auf eine Verpflichtung zur Rufbereitschaft in der Schweiz übernachtet habe, "Nichtrückkehrtage" i.S.d. Art. 15a Abs. 2 DBA?Schweiz dar. Denn der Kläger sei an diesen Tagen nach dem Ende seiner aktiven Tätigkeit nicht nach Deutschland zurückgekehrt, und das Erfordernis der Rufbereitschaft sei ein beruflicher Grund für seinen Verbleib in der Schweiz. Damit liege eine durch die Arbeitsausübung bedingte Nichtrückkehr vor, und zwar unabhängig davon, ob die Zeit der Rufbereitschaft arbeitsrechtlich oder steuerrechtlich als Arbeitszeit zu werten sei oder nicht. Im Einzelnen treffe den Steuerpflichtigen die objektive Feststellungslast.
Hinweis
1. Besonders im deutsch-schweizerischen Grenzgebiet streiten die FÄ und Steuerpflichtigen oftmals über die Besteuerungshoheit, wenn der Steuerpflichtige zwar in Deutschland wohnt, jedoch in der Schweiz arbeitet. Es geht dann um die Frage, ob der Steuerpflichtige als sog. Grenzgänger i.S.v. Art. 15a DBA Schweiz anzusehen ist oder aber – was regelmäßig belastungsgünstiger ist – der Schweizer Besteuerung unterliegt.
2. Grenzgänger in jenem Sinn sind solche Personen, die von ihrem Arbeitsort regelmäßig an ihren Wohnort zurückkehren. Bleiben sie an mehr als 60 Arbeitstagen aus Gründen, die in ihrer Arbeitsausübung liegen, in der Schweiz, dann verlieren sie ihren Status.
3.Wann die 60 Tage erreicht und überschritten sind, errechnet sich letztlich rein kalendarisch. Allerdings gibt es Abweichungen: Personen, die bedingt durch die betrieblichen Umstände nicht heimkehren können, z.B. weil sie im Schichtdienst arbeiten oder weil sie Bereitschaftsdienst haben, werden "fiktiv" als Rückkehrer behandelt. Das bestimmt das Verhandlungsprotokoll zum DBA Schweiz.
a) Dazu hatte der BFH im Urteil vom 16.5.2001, I R 100/00 (BFH-PR 2001, 358) entschieden: Es kann nicht darauf ankommen, ob die "übernächtliche" oder mehrtägige Abwesenheit in Umständen begründet ist, die arbeitsvertraglich vereinbart sind. Auch eine Person, die nur infolge kurzfristiger betrieblicher Umstände über Nacht "einspringt" oder Bereitschaftsdienste wahrnimmt, ohne dass sie dies vertraglich zwingend müsse, ist entsprechend zu behandeln.
Das entscheidende Abgrenzungskriterium zwischen ( 1.) jenen Arbeitnehmern, die auf diese Weise als "fiktive" arbeitstägliche Rückkehrer (mit der Folge der fortbestehenden deutschen Besteuerung) zu behandeln sind, und ( 2.) der beruflich bedingten Nichtrückkehr hat der BFH in jenem Urteil darin gesehen, ob der Arbeitnehmer über die Tagesgrenze hinaus seiner Arbeit nachgeht oder ob er – aus beruflichen Gründen – nach getaner Arbeit außerhalb des Ansässigkeitsstaats verbleibt, etwa weil er eine beruflich bedingte Reise wahrnehmen muss oder weil es bei einer mehrtägigen Veranstaltung ausgeschlossen oder jedenfalls unzumutbar ist, heimzukehren.
b) Von diesem Abgrenzungskriterium des zeitlichen Abstellens auf das Tagesende hat der BFH sich nunmehr gelöst. Er hält es nicht mehr für sachgerecht.
Praktisch ...