Prof. Dr. Hans-Friedrich Lange
Leitsatz
1. Die Haftungsinanspruchnahme für einen Umsatzsteuerrückforderungsanspruch wegen (angeblich) materiell-rechtlich zu Unrecht festgesetzter und ausgezahlter negativer Umsatzsteuer (Vorsteuerüberschüsse) setzt voraus, dass aufgrund der formellen Bescheidlage (Aufhebung oder Änderung der Steuerfestsetzung) beim Steuerpflichtigen (Primärschuldner) festgestellt wurde, dass der Umsatzsteuererstattungs- bzw. Vergütungsanspruch nicht bestanden hat.
2. Es genügt nicht, dass materiell-rechtlich kein Anspruch auf Festsetzung der negativen Umsatzsteuer und die Auszahlung des Überschusses bestand. Die Steuerfestsetzung gegenüber dem Steuerpflichtigen (Primärschuldner) muss zunächst entsprechend der materiellen Rechtslage korrigiert werden.
Normenkette
§ 37 Abs. 2, § 38, § 69, § 150 Abs. 1 Satz 3, § 168 Sätze 1 und 2, § 191 Abs. 1 Satz 1, § 218 Abs. 1 AO
Sachverhalt
Eine GmbH hatte in verschiedenen Umsatzsteuer-Voranmeldungen Vorsteuerbeträge geltend gemacht, die ihr durch das FA erstattet wurden.
Aufgrund einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung kam das FA später zu der Auffassung, der GmbH stünden die Vorsteuerbeträge nicht zu.
Nach Angaben des FA hob es die Umsatzsteuer-Voranmeldungen auf und erteilte der GmbH Abrechnungsbescheide über die zu viel erstattete Umsatzsteuer. Die GmbH bestritt den Zugang dieser Bescheide.
Das FA nahm daraufhin den Kläger mit Haftungsbescheid gem. § 191 i.V.m. §§ 69, 34 AO für die Umsatzsteuerschulden der GmbH in Anspruch, da er als Geschäftsführer der GmbH deren Steuern nicht abgeführt habe.
Die Klage hatte Erfolg (Sächsisches FG vom 19.5.2009, 2 K 863/07, Haufe-Index 2425199, EFG 2011, 938).
Entscheidung
Der BFH wies die Revision des FA als unbegründet zurück.
Er entschied, im Streitfall bildeten die Umsatzsteuer-Voranmeldungen der GmbH den rechtlichen Grund für die Auszahlung der Umsatzsteuer (Vorsteuerüberschüsse) an die GmbH.
Diese Steueranmeldungen (§ 150 Abs. 1 Satz 3 AO), die jeweils einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichstünden (§ 168 AO), habe das FA nicht wirksam aufgehoben. Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG habe das FA den Zugang der Aufhebungsbescheide und der entsprechenden Abrechnungen nicht nachweisen können.
Solange somit die den Zahlungen zugrunde liegenden Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide Geltung hätten, sei weder ein Erstattungsanspruch gegenüber der GmbH (§ 37 Abs. 2 AO) noch ein etwaiger Haftungsanspruch gegen den Kläger (§ 191 Abs. 1 Satz 1 AO) durchsetzbar.
Hinweis
Ist eine Steuer oder eine Steuervergütung ohne rechtlichen Grund gezahlt oder zurückgezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, nach § 37 Abs. 2 AO gegen den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten oder zurückgezahlten Betrages.
Für die Finanzverwaltung ergibt sich aus dieser Vorschrift ein öffentlich-rechtlicher Rückforderungsanspruch, wenn der Rechtsgrund für eine Steuererstattung von Anfang an fehlt oder später weggefallen ist.
Ob eine Steuer oder eine Steuervergütung i.S.d. § 37 Abs. 2 Satz 1 AO ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist, richtet sich regelmäßig nach den zugrunde liegenden Steuerbescheiden. Denn Grundlage für die Verwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis (§ 37 AO) sind die Steuerbescheide; die Steueranmeldungen (§ 168 AO) stehen den Steuerbescheiden gleich (§ 218 Abs. 1 Sätze 1 und 2 AO).
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 14.3.2012 – XI R 6/10