Der EuGH hat hingegen mit Urteil vom 22.6.2017 entschieden, dass die unionsrechtliche Arbeitnehmerfreizügigkeit nach Artikel 45 AEUV (vorher: Artikel 39 EG) einer Regelung wie der des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG entgegensteht, nach der die Altersvorsorgeaufwendungen und Krankenversicherungsbeiträge von – in einem EU-Mitgliedstaat tätigen, aber in Deutschland wohnenden –Arbeitnehmern, deren Arbeitslohn nach einem Doppelbesteuerungsabkommen von der inländischen Besteuerung freigestellt ist, vom Sonderausgabenabzug ausgenommen sind, während für vergleichbare Beiträge eines in Deutschland tätigen Arbeitnehmers zur deutschen Sozialversicherung dieser Abzug gestattet wird. Der Tenor des EuGH-Urteils ist auf eine Tätigkeit für die öffentliche Verwaltung beschränkt. Die Urteilsbegründung macht aber deutlich, dass die rechtliche Natur des Beschäftigungsverhältnisses (öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Beschäftigung) nicht entscheidend ist (s. Rn. 33 des Urteils).
Nach Feststellung des EuGH kann das hier einschlägige Sonderausgabenabzugsverbot für Sozialversicherungsbeiträge, die in unmittelbarem wirtschaftlichen Zusammenhang mit in einem anderen Mitgliedstaat erzielten und nach DBA in Deutschland steuerfreien Einnahmen stehen, den betreffenden Steuerpflichtigen davon abhalten, seine Arbeitnehmerfreizügigkeit wahrzunehmen. Grundsätzlich ist es Sache des Wohnsitzstaates, familien- und personenbezogene Abzüge zu gewähren, es sei denn, dieser Staat ist im Vertragsweg von seiner Verpflichtung zur vollständigen Berücksichtigung der persönlichen und familiären Situation befreit oder er stellt fest, dass ein oder mehrere Beschäftigungsstaaten – auch außerhalb irgendeiner Übereinkunft – mit von ihnen besteuerten Einnahmen im Zusammenhang stehende Vergünstigungen bezogen auf die persönliche und familiäre Situation gewähren würden (Rn. 71 des Urteils). Dabei dürfte es nach hiesiger Rechtsauffassung unerheblich sein, ob der Beschäftigungsstaat einen vergleichbaren Abzug in gleicher Höhe wie das deutsche Steuerrecht gewährt und ob sich der Abzug dort steuerlich auswirkt.
Der Tenor des EuGH-Urteils ist auf den Sonderausgabenabzug von Altersvorsorgeaufwendungen und Krankenversicherungsbeiträgen beschränkt. Aus der Urteilsbegründung wird jedoch deutlich, dass im Hinblick auf die übrigen Vorsorgeaufwendungen, sofern sie grundsätzlich vom Abzugsverbot umfasst sind, nichts anderes gelten kann.
Aufgrund der unmittelbaren Wirkung von Artikel 45 AEUV sind die Grundsätze des EuGH-Urteils sofort umzusetzen. Entgegen § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG ist der Sonderausgabenabzug in allen noch offenen Fällen zu gewähren, sofern er nach dem EuGH-Urteil geboten ist. Unberührt bleiben jedoch Fälle, in denen die nichtselbstständige Tätigkeit außerhalb eines Mitgliedstaats der EU oder eines EWR-Staates, der die Arbeitnehmerfreizügigkeit grundsätzlich in gleicher Weise gewährleistet, ausgeübt wird. Damit besteht auch für in der Schweiz tätige Arbeitnehmer – trotz des zwischen der Schweiz und der EU bestehenden Freizügigkeitsabkommens, das Arbeitnehmern ähnliche Rechte gewährt – kein Bedarf, das Sonderausgabenabzugsverbot aufgrund des betreffenden EuGH-Urteils einzuschränken. Die unionsrechtliche Arbeitnehmerfreizügigkeit steht dem Abzugsverbot nach § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG insoweit nicht entgegen.
Da die erforderliche gesetzliche Anpassung des § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG entsprechend der EuGH-Rechtsprechung nicht zeitnah (rückwirkend) im Jahr 2017, sondern frühestens im Herbst 2018 erfolgen konnte, wurde von der Finanzverwaltung das EuGH-Urteil zunächst mit einem begleitenden Anwendungsschreiben im Bundessteuerblatt veröffentlicht. Danach gelten folgende Grundsätze:
Entgegen § 10 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG sind Vorsorgeaufwendungen nach § 10 Abs. 1 Nrn. 2, 3 und 3a EStG als Sonderausgaben zu berücksichtigen, wenn