Leitsatz
1. Monatlich wiederkehrende Einkünfte und Bezüge, die im Rahmen der nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG durchzuführenden monatsbezogenen Vergleichsrechnung nach dem Zuflussprinzip des § 11 EStG zu erfassen sind und dem behinderten Kind kurze Zeit vor Beginn oder kurze Zeit nach Beendigung des Kalendermonats, für den sie bestimmt sind, zufließen, sind in dem bestimmungsgemäßen Monat zu erfassen.
2. Als kurze Zeit gilt ein Zeitraum von bis zu zehn Tagen.
Normenkette
§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3, § 11 EStG, § 16b, §§ 19 ff. SGB II
Sachverhalt
Die Klägerin ist Mutter des im August 1984 geborenen Sohnes S, der von Geburt an mit einem GdB von 90 sowie den Merkzeichen G und B und seit Oktober 2009 mit einem GdB von 100 schwerbehindert ist. S beendete Ende März 2009 sein Musikstudium. Die Klägerin teilte der Familienkasse mit, S wolle ab April 2009 eine selbstständige Tätigkeit als Musiker und Diplommusiklehrer aufnehmen.
Die Familienkasse hob die Festsetzung von Kindergeld ab April 2009 auf, weil S imstande sei, sich selbst zu unterhalten. Während des Klageverfahrens half die Familienkasse für den April 2009 sowie für Juni 2009 bis November 2009 ab. Streitig war danach noch die Berücksichtigung für Mai und Dezember 2009. Im Mai hatte S ALG II für April, Mai und Juni bezogen und im Dezember 2009 verblieben ihm 1.425,64 EUR, darunter eine Nachzahlung von Einstiegsgeld für fünf Monate in Höhe von 897,50 EUR.
Das FG München (Urteil vom 29.3.2011, 13 K 617/10, Haufe-Index 2715732, EFG 2011, 1725) wies die Klage ab.
Entscheidung
Die Revision hatte Erfolg. Der BFH sprach der Klägerin auch für Mai und Dezember 2009 Kindergeld zu, weil die am 6.5. bezogene ALG-II-Zahlung für April dem April und die am 29.5. bezogene Leistung für Juni dem Juni 2009 zuzuordnen ist. Das am 3.12. nachgezahlte Einstiegsgeld für Juni bis November war, soweit es auf den November entfiel, im November, und für die anderen vier Monate ab Januar des Folgejahrs zu erfassen.
Hinweis
1. Einkünfte und Bezüge des Kindes sind nach dem Wegfall der Grenzbetragsregelung Ende 2011 noch in zwei Konstellationen von Bedeutung:
- Bei verheirateten Kindern (DA-FamEStG 2012 31.2.2), ob dies rechtmäßig ist, wird der BFH demnächst entscheiden, und
- hinsichtlich der Frage, ob ein behindertes Kind außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
2. Ob ein volljähriges Kind behinderungsbedingt außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, ist nicht für das Kalenderjahr, sondern für jeden Kalendermonat gesondert zu prüfen. Die zeitliche Erfassung richtet sich grundsätzlich nach § 11 EStG. Die im Laufe der Zeit von mehreren BFH-Senaten gestaltete Rechtslage ist jedoch im Einzelnen etwas unübersichtlich. So werden Einnahmen wie das Weihnachtsgeld z.B. auf den Zuflussmonat und die elf nachfolgenden Monate aufgeteilt (BFH, Urteil vom 24.8.2004, VIII R 83/02, BFH/NV 2004, 1717) und Ausgaben für nicht monatlich anfallenden Mehrbedarf einem angemessenen Zeitraum zugeordnet (BFH, Urteil vom 24.8.2004, VIII R 59/01, BFH/NV 2004, 1715; mit Hinweis auf den BGH: "vorausschauende Bedarfsplanung unter Zugrundelegung einer monatlichen Durchschnittsbelastung").
3. Für die Zuordnung von Nachzahlungen sind mehrere Lösungen denkbar: Die Erfassung im Zuflussmonat, eine wirtschaftliche Zurechnung zu den Monaten, für die sie geleistet werden und eine Verteilung auf die dem Zufluss folgenden Monate. Der BFH hat sich dafür entschieden, Nachzahlungen, die den Wegfall der Bedürftigkeit bewirken, auf den dem Zufluss folgenden Monat und die weiteren Monate bis zum Jahresende zu verteilen (seit BFH, Urteil vom 4.11.2003, VIII R 43/02, BFH/NV 2004, 405; ebenso BVerwG vom 18.2.1999, 5 C 35/97, BVerwGE 108, 296). Eine im Januar erhaltene hohe Nachzahlung lässt demnach die Berücksichtigung des behinderten Kindes in den Monaten Februar bis Dezember entfallen, eine im Oktober erhaltene Leistung dagegen nur die Berücksichtigung im November und Dezember.
4. Das Besprechungsurteil schränkt diese für die Praxis recht komplizierte Behandlung der Nachzahlungen ein, indem es den Anwendungsbereich des § 11 Abs. 2 Satz 2 EStG von Zahlungen, die kurze Zeit vor oder nach Beginn des Kalenderjahrs geleistet werden, zu dem sie wirtschaftlich gehören, über den Wortlaut hinaus auf wiederkehrende Zahlungen erweitert, die kurz vor oder nach dem Monat eingehen, zu dem sie gehören. Zahlungen, die zehn Tage vor oder nach dem Bestimmungsmonat zufließen, sind daher keine Nachzahlungen, sondern werden im Bestimmungsmonat erfasst.
Link zur Entscheidung
BFH, Urteil vom 11.4.2013 – III R 35/11